Wittgenstein
Qualität. Eine solche Gelegenheit kommt nicht wieder, die kann er sich nicht entgehen lassen.
Marco H. geht nur etwa dreißig Meter hinter der letzten Kurve auf der großen Geraden. Der Fahrer hat keine Ahnung davon, wie tief der Fußgänger in seine Gedanken versunken ist. Im guten Glauben, das Richtige zu tun, lösen seine auf Fernlicht gestellten Scheinwerfer in dem Moment, in dem er um die letzte Kurve kommt, die Dunkelheit um Marco H. auf. Der Fahrer hat die Dunkelheit nie gemocht, er würde, wenn er ein Fußgänger wäre, ein vorbeifahrendes Auto immer als so etwas wie eine Versicherung verstehen. Die herannahende Zivilisation als ein strahlendes Brummen, ein kurzer Moment der Gemeinsamkeit, bevor die Rücklichter um die nächste Kurve verschwinden. Damit ein Auto auf einer nächtlichen Landstraße beruhigend auf einen Fußgänger wirkt, müssen Augen und Ohren des Fußgängers offen sein. Lange bevor das Auto auf seiner Höhe ist und die Dunkelheit um ihn herum tatsächlich verschwindet und der Fußgänger selbst in voller Größe im hellen Lichterglanz erstrahlt, muss er es hören und sehen, seine Geschwindigkeit abschätzen und die Situation als vollkommen ungefährlich einschätzen. Nur dann kann es ihm für einen kurzen Moment die Angst nehmen, die die Dunkelheit eventuell einflößt, und nur dann ist es für den Autofahrer ein Leichtes, ihn zu überfahren.
Als plötzlich hinter ihm Licht um die nahe Kurve geschossen kommt, sind der Schreck und drei Schritte die Böschung hinab fast eins. Er fällt und rutscht die Böschung runter. Der Wagen bremst ab und kommt ein paar Meter hinter der Stelle zum Stehen. Seine Bremslichter leuchten wie elektrisches Spielzeug, dann werden Motor und Scheinwerfer ausgestellt. Die Dunkelheit verschluckt jeden und alles. Wemlighäuser und Schüllerianer legen sich ins Bett, löschen das Licht und schlafen sofort ein. Sterne sind keine mehr zu sehen. Seine Hände krallen sich am Gerippe der Büsche fest. Er hätte die Äste loslassen müssen, wenn er flüchten wollte, aber er kann die Äste nicht loslassen. Und wohin hätte er flüchten sollen? Die Dunkelheit hat alles um ihn herum verschluckt. Bewegungslos bleibt er in der Böschung liegen. Die beiden Hände umklammern die dürren Äste, jeweils fünf bis sechs davon, mit einer solchen Kraft, dass schon jetzt fraglich ist, ob sich der Busch in seiner Gesamtheit je wieder davon erholen wird.
Das Abstellen des Motors taucht die Szene in Totenstille. Das Fenster an der Fahrerseite wird langsam heruntergekurbelt. Keiner der beiden hört etwas anderes als die eigene Atmung. Beide sind eingefroren in ihrer jeweiligen Haltung. Ein Pottwal und eine Riesenkrake, die sich in der schwarzen Tiefe des Meeres bewegungslos gegenüberstehen.
Ihm ist kalt wie noch nie in seinem Leben, und selbst der Fahrer fröstelt, denn durch das Fenster weht ein schneidender Wind in das Wageninnere. Dem ersten Impuls, das Lenkrad loszulassen, ist er nicht gefolgt. Er war nie besonders geschickt mit seinen Händen: Lenken geht so, Wagenwaschen und Essen natürlich. Kräftiger als die Hilfskraft ist er allemal, aber auch nicht richtig kräftig. Als ob es um Kraft ginge. Hier geht es um Entschlossenheit. Als er endlich so weit ist, die Fahrertür zu öffnen, hört er den Motor eines anderen Wagens. Der Fahrer hat zu lange gewartet, die Zivilisation kommt um die Ecke. Die B525 zwischen Bad Berleburg und Wemlighausen mag einsam sein, aber so einsam auch wieder nicht. Ärgerlich knallt er die halb geöffnete Tür wieder zu, macht das Licht an und dreht den Zündschlüssel. Bevor er losfährt, wartet er lang genug, um sicherzugehen, dass der andere in der Böschung den vorbeifahrenden Wagen nicht mehr anhalten kann. Die Hände sind an dem dürren Holz festgefroren und gehören nicht mehr zu seinem Körper. Erst als wieder vollkommene Ruhe um ihn herrscht, steht er auf. Seine Nase hat schon vorher angefangen zu bluten, aber erst jetzt leckt er sich die Lippen ab. Mit ein paar unbeholfenen Schritten, die Böschung nach oben, steht er wieder am Rand der Straße.
Menschen als Schatten hinter weißen Bettlaken, das Jaulen von eingesperrten Haustieren, so etwas in der Art. Alles ziemlich unsichtbar. Da, wo er ist, kann er nicht bleiben, also klettert er über das Holzgeländer seiner kleinen Terrasse und springt runter in die Ruelle. Links oder rechts? Rechts natürlich! Er macht sich auf den Heimweg.
+++
Der Wagen hat dich nie im Stich gelassen und wird
Weitere Kostenlose Bücher