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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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stadteinwärts losfährt, wie die Tür sich öffnet und der weiße Kopf des Alten erscheint. Er blickt der mit jedem Schritt kleiner werdenden Gestalt seiner Großtante nach und steht noch bewegungslos auf dem Parkplatz, als sich die Tür schon lange geschlossen hat.
    Er hat nicht auf die Lichter der Hauptstraße geachtet. An der letzten Straßenlaterne vor der Landstraße nach Schüllar scheint ihm das keinen Vorteil zu bringen. Die Dunkelheit, die vor ihm liegt, kommt ihm deswegen nicht heller vor. Und doch hätte sich das Gefühl, das ihn unter der letzten Lichtquelle packt, intensiviert, wenn er vor den Auslagen des Optikers und Elektrofachhandels stehen geblieben wäre und sich die glänzenden Waren angeschaut hätte. Umgekehrt hätte es das Gefühl eventuell abgeschwächt, wenn er auf seinem Weg vom Kino bis hierher die Augen der Übung halber immer wieder für zehn, fünfzehn Meter geschlossen hätte. Die Dunkelheit zieht seine Aufmerksamkeit auf eine andere, intensivere Weise auf sich als das Licht. Er lässt den Detektiv in der Hölle schmoren und konzentriert sich auf das Hier und Jetzt. Jeder hat schließlich seine eigenen Probleme, und in letzter Konsequenz hilft niemand. »Einer«, »alle« oder »keiner«. Auf der B525 zwischen Bad Berleburg und Wemlighausen wird ihm im Dunkeln bestimmt keiner eine helfende Hand reichen. Es genügt, die Augen offen zu halten, um sich davon zu überzeugen.
    Aus Gewohnheit geht er auf der linken Straßenseite und nicht am matschigen Straßenrand entlang. In seinen Turnschuhen bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Bis nach Schüllar sind es noch ungefähr vier Kilometer. Der Wind weht von der Wiese rechts über die Straße in den Wald hinein. Wenn dort oben zwischen den Bäumen ein großes Tier lauerte, würde diesem jetzt der Menschengeruch pausenlos in die Nüstern geblasen. Er dagegen könnte den säuerlichen Geruch des Tieres bei dem Wind nicht mal riechen, wenn es direkt vor ihm stünde. Die Dunkelheit macht ihn einsam, besonders weil er sie mit Leben füllt und sich dahinter alles Mögliche verstecken könnte. Wieder und wieder blinzelt er in Richtung Wald, um dort oben etwas zu erkennen, das nicht da ist, etwas, das auch im Glanz des Sonnenlichts besehen nicht da sein könnte.
    Die B525 ist um diese Zeit ziemlich leer. Nach zwei Kilometern Fußmarsch kann er die entgegenkommenden Fahrzeuge noch an einer Hand abzählen.
     
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    Die Telefonhilfskraft hat Nerven. Im Gegenteil, er hat die Nerven verloren. Bei euch ist schon viel falsch gelaufen mit den Aushilfen in der Zentrale, aber bisher haben sie wenigstens Bescheid gegeben, bevor sie ihren Arbeitsplatz verlassen. Er ist einfach abgehauen und hat sich verkrochen wie eine Ratte. Natürlich ist er es gewesen, das wusstest du in dem Moment, als du den Sender gefunden hast. Da hätte es der Frühstücksquittung, die er als Visitenkarte dagelassen hat, nicht mehr bedurft. Sein Verhalten heute hat es dir bestätigt. Nachdem du sie aufgeklärt hast, hätten die beiden anderen sich ihn am liebsten noch während der Arbeitszeit geschnappt. Aber du konntest sie davon abbringen. Eigentlich logisch, dass er abgehauen ist, aber irgendwie hast du nicht damit gerechnet. Du hast mehr von ihm erwartet. Aber was hätte er auch tun sollen?
    Vor einer halben Stunde, als ihr drei etwas ratlos vor dem leeren Telefontischchen mit den drei Sendern gestanden habt, hast du dich bereit erklärt, die letzte Stunde seiner Schicht zu übernehmen. Du sitzt zum ersten Mal am Telefon. Um die Zeit ruft selten einer an. Vom Telefonistentischchen aus betrachtet sieht die Zentrale auch nicht anders aus als von deinem Stammplatz am großen Tisch. Wie viele von denen hier im Laufe der Jahre schon gesessen haben? In der ganzen Zentrale erinnert nichts auch nur an eine einzige der vielen Telefonhilfskräfte, die hier schmählich versagt haben. Das Einzige, was die Anwesenheit der vielen Telefonkräfte in der Zentrale bezeugt, ist die verdreckte und verstaubte Telefonanlage, das wackelnde Tischchen und der schreckliche Stuhl. Langsam immer schäbiger werdende Gebrauchsgegenstände wie diese können nur unter erheblichem Zeitaufwand und durch sich abwechselnde Personen in ihren jetzigen Zustand versetzt worden sein.
     
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    Marco H. hat keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Nicht mal zwei Stunden nach seinem Verschwinden sieht es aus, als wäre er gar nicht da gewesen. Die Anlage und das Mobiliar sind durch seine relativ kurze Anwesenheit nicht

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