Wittgenstein
es auch jetzt nicht tun. Mit deinem eigenen hättest du überhaupt keine Bedenken, aber der Dienstwagen hat sich in den letzten Jahren als ebenso zuverlässig erwiesen. Der Motor ist ähnlich stark, die Winterbereifung optimal. Schneeketten sind nicht nötig. Heute Abend fährst du nicht nach Hause und verkriechst dich in deinem Bett und wartest darauf, dass der Wecker am nächsten Morgen klingelt und du wieder aufstehst und zur Arbeit fährst, wo du auf Fahrgäste wartest, um sie dahin zu fahren, wohin sie wollen. Heute Abend nicht! Die Zeiten sind vorbei. Endgültig! In der Hole taut es schon seit gut einer Woche. Davor wärst du wahrscheinlich nicht mal mit Schneeketten hochgekommen. Aber jetzt kommen die Steine überall wieder raus. Die Ölwanne kannst du nach der Fahrt vergessen, wahrscheinlich ist die gesamte Unterseite hin, aber die wirst du nicht mehr brauchen. Wie der Wagen danach aussieht, stellst du dir am besten gar nicht vor. Matsch, Schnee und Schotter, große Wackersteine, als hätte jemand sie absichtlich dort hingeschmissen, damit du nicht hochkommst. Aber du kommst hoch. Du fährst mit Schrittgeschwindigkeit nach oben. Mit etwas Glück bleibst du nicht stecken. Der Wagen wackelt den Berg hoch wie ein fettes Insekt. Mit käferähnlicher Hartnäckigkeit klebt er an seinem Leben, der Bewegung. Du hast keine Ahnung, was du tun sollst. Du weißt nicht mal, wozu du überhaupt fähig wärst. Der Schotterweg ist sehr schmal und dein Mercedes von der eher breiteren Sorte. Da braucht es schon Gefühl im rechten Fuß. Das immerhin hast du. Was hast du sonst noch? Einen Plan jedenfalls nicht. Im Lichtkegel tauchen links die ersten Stufen einer Steintreppe auf. Das muss es sein. Du hältst an, ziehst die Handbremse und steigst aus. Du tätschelst mit der Hand das eiskalte Dach des Wagens, eine Art Abschied.
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Die Treppe führt nur tiefer in die Dunkelheit. Erst nachdem du schon eine Handvoll Stufen hochgegangen bist, erkennst du vor dir am Hang die Schemen eines kleinen Hauses mit Spitzdach. Noch ein paar Stufen, und du hast die Tür erreicht. Wenn du dich jetzt umdrehst, kannst du den Wagen da unten nicht mehr sehen. Als hätte der Morast ihn verschluckt. Die Hole ist eine gefährliche Gegend für solche Autos, da gibt es kein Vor oder Zurück. Wen interessiert das jetzt noch? Dich nicht!
Einen Moment bleibst du auf der obersten Treppenstufe vor der Tür stehen und wartest ab und horchst in die Stille hinein. Du drückst die Klinke nach unten und stellst verwundert fest, dass die Tür offen ist. Du trittst ein.
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Wenn er in Montreal geblieben wäre, hätte er es im Winter schön warm. Die Schneemassen auf seiner kleinen Terrasse, die sich hoch über dem Fenster türmen und ihm komplett die Sicht auf die Ruelle nehmen, haben eine eher isolierende Wirkung. Die Heizungsanlagen in Montreal sind klein, formschön und effektiv. Die Wohnungen werden im Winter zu Höhlen mit warmen Wänden und heißen Suppen. Den wohlwollenden Blick eines neugierigen Nachbarn nimmt man gerne in Kauf. »Sie haben lange genug nur zugeschaut. Für Sie ist es an der Zeit, sich zu zeigen.«
»Das hab ich davon!«, denkt er, während er von der B525 in den Friedhofsweg in Richtung »In der Hole« abbiegt. Die Grabsteine glänzen im Licht der Sterne, die sich in der Zwischenzeit wieder etwas näher herangewagt haben. Selbst der feige Mond leuchtet hinter einer Wolke hervor. Keiner der Geister auf dem kleinen Friedhof hat ihm etwas zu sagen. Er muss sich beeilen und träumt von seiner schwarzen Badewanne im Kerzenlicht, zusammen mit Anne, doch Anne ist nicht da, und es ist nicht sicher, ob sie je wieder da sein wird.
In der Hole kennt er sich aus wie kein Zweiter. Er kennt jeden Strauch und die größten der Steine. Fast blind findet er zwischen Geröll und Matsch seinen Weg. Obwohl er geschwächt ist, rutscht er nicht ein einziges Mal aus oder stolpert. Die letzten Meter läuft er fast und hätte um ein Haar das Auto übersehen, das vor seinem Haus parkt. Das Haus ist von der Hole aus gut zu sehen. Alle Fenster, auch die der oberen Etage, stehen sperrangelweit auf und sind erleuchtet. Wie der Taxifahrer zwanzig Minuten vor ihm steigt auch Marco H. die Treppe nach oben. Da hinter jedem der Fenster die Wände in ihrer jeweiligen Farbe leuchten, wirkt das Haus von der Treppe aus wie ein düsteres buntes Puppenhaus, dessen Dimensionen aus den Fugen geraten sind. Auch die Haustür hat der Taxifahrer weit offen stehen
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