Wittgenstein
wahrnehmbar in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Sachen sehen heute nicht anders aus als vor ein paar Monaten. Er ist schon gar nicht mehr da. Wenn es nach den anderen geht, kann er sich noch eine Tracht Prügel abholen und dann nichts mehr. Sie werden ihn schnell vergessen. Seine Leistung mag überdurchschnittlich gewesen sein, aber was soll's? Stellt sich noch die Frage, ob du dich mit einer Tracht Prügel zufriedengibst. Er kann nichts wissen, es gibt keine Zeugen, und dich könnte er eine Million Arbeitsstunden lang abhören, du würdest dich nicht verraten. Im Grunde, wenn du es recht bedenkst, war das nichts als ein Dummejungenstreich. Aber hat so ein Vertrauensverhältnis wie das eure erst einmal einen Knacks bekommen, ist nichts mehr zu machen. Außerdem konntest du ihn von Anfang an nicht leiden. Von allen Telefonhilfskräften war er dir die unsympathischste. Sagen wir, seine Art hat dir einfach nicht gelegen. Du willst ihn fertigmachen. Du willst es einfach.
Eine ganze Stunde vor einem Telefon sitzen, das nicht klingelt, macht jeden depressiv, da bist du keine Ausnahme. Es passiert nichts. Die Zeiger der Uhr bewegen sich immer nur dann, wenn du gerade woanders hinschaust. Da könntest du durchdrehen. Aber auch die längste Stunde geht irgendwann vorbei. Dafür nimmst du heute als kleine Belohnung das Taxi mit nach Hause. Du steigst ein und fährst los. Du fährst an deiner Wohnung vorbei und weiter über die Landstraße, irgendwann drehst du und fährst zurück in die Stadt. Du fährst ein bisschen rum. Mal hierhin, mal dorthin, wie ein Staubsauger auf einem Teppich. So langsam kannst du wieder durchatmen. Dann traust du deinen Augen nicht: Auf der B525 kommt dir die Telefonhilfskraft Marco H. zu Fuß entgegen. Du hast die lange dürre Gestalt im Vorbeifahren gerade noch erkennen können. Hoffentlich hat er seinerseits den Wagen nicht erkannt. Aber die Taxibeleuchtung ist aus, wie will er nachts einen Wagen erkennen? Dazu braucht es Jahre der Übung, die er nicht hat.
Was für ein Zufall! Eine Art Geschenk. Man könnte fast glauben, jemand meine es ausgesprochen gut mit dir. Der gleiche Jemand hat für Marco H. nicht so viel übrig. Schicksal hat viel mit entgegengesetzten Interessen zu tun. Du könntest den anderen Bescheid geben, aber, wer weiß, vielleicht schlafen die schon. Günther ist vorm Fernseher eingeschlafen, Fred hat es bis ins Bett geschafft. Warum solltest du sie wecken? Und was hättest du auch von so einer kleinen, grausamen Feier? Das kannst du alleine, das kannst du sogar besser alleine. Es gibt ein paar Sachen, die du nicht teilen kannst, nicht mal mit deinen Kollegen. Ihm einen kleinen Schrecken einjagen ist das eine, ihn ein für alle Mal zum Schweigen bringen etwas anderes. Davon wollen die anderen doch gar nichts wissen.
Erst mal fährst du weiter bis zum Ortseingang, du hast Zeit. Auf dem Parkplatz vorm Wittgensteiner Hof kannst du gemütlich drehen und zurückfahren. So schnell läuft der dir nicht weg.
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Über ihm werden die Sterne immer kleiner, als würden sie sich entfernen. Er geht nicht besonders schnell, in Anbetracht des immer noch dunkler werdenden Himmels über ihm sogar recht langsam. Ihm ist kalt, und seine Turnschuhe sind durchnässt. Wieso gelingt es ihm nicht, seine Füße im Winter ordentlich zu schützen? Auch in Bad Berleburg gibt es Schuhgeschäfte. Er würde etwas dafür geben, jetzt auf dem alten, versifften Teppich in Montreal zu stehen und geduldig darauf zu warten, bis der alte Inder die Badezimmertür aufmacht. Vor ihm in der Ferne tauchen die Lichter von Wemlighausen auf, hinter ihm die Lichter eines Wagens.
Die Lichter des Wagens rasen auf die Lichter von Wemlighausen zu und wollen die langsam vorwärtskommende Gestalt in der Mitte mit sich reißen. Der Wagen kommt schnell näher, doch Marco H., vertieft in seine sich um die Unzulänglichkeit seines Schuhwerks drehenden Gedanken, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Für den Fahrer ist es das erste Mal. Nie zuvor hat er jemanden überfahren, der ihm auf der anderen Straßenseite entgegengekommen ist. Er hat nie den Wagen gedreht und ist zurückgefahren. Er hat vorher nie gewusst, dass es passieren würde, außer in dem Moment, in dem es passierte. Keines seiner Opfer hat er näher gekannt. Bisher hat er immer erst aus der Zeitung erfahren, wen er in den Nächten zuvor erwischt hatte. In diesem Fall handelt es sich um einen anderen Tatbestand. Eine Tötungsabsicht von anderer
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