Witwe für ein Jahr (German Edition)
meine Mutter ja nicht so viel aus ihm gemacht wie er sich aus ihr«, sagte sie. »Nicht einmal mein Vater kann Eddie O’Hares Bücher lesen, ohne anzumerken, daß Eddie meine Mutter offenbar angebetet hat.«
»Bis zum Erbrechen«, sagte Allan, der kein Buch von Eddie O’Hare lesen konnte, ohne Bemerkungen dieser Art loszulassen.
»Bitte keine Eifersucht, Allan«, sagte Ruth mit ihrer typischen Vorlesestimme und ihrem unnachahmlichen Pokerface. Allan wirkte gekränkt. Ruth hätte sich ohrfeigen können. Im Verlauf eines Abends hatte sie erst »Scheiß auf Sie« zu einer Großmutter (und ihren Enkelkindern) gesagt und nun den einzigen Mann verletzt, den sie jemals zu heiraten erwogen hatte.
»Na ja«, erklärte sie, »mit Eddie O’Hare allein zu sein ist in jedem Fall aufregend für mich.«
Armer Karl und arme Melissa! dachte Ruth. Aber die beiden waren Schriftsteller gewohnt und hatten bestimmt schon taktlosere erlebt als sie.
»Deine Mutter hat deinen Vater garantiert nicht wegen O’Hare verlassen«, sagte Allan; er wählte seine Worte sorgfältiger als sonst. Wohlerzogen versuchte er, sich zusammenzunehmen. Ruth merkte, daß ihm ihre Launen angst machten, und auch dafür hätte sie sich ohrfeigen können.
»Das ist sicher richtig«, antwortete Ruth, ebenso besonnen. »Aber jede Frau hätte Grund genug gehabt, meinen Vater zu verlassen.«
»Deine Mutter hat auch dich verlassen«, warf Allan ein. (Darüber hatten sie ebenfalls endlos gesprochen.)
»Auch das ist richtig«, entgegnete Ruth. »Und genau darüber möchte ich mit Eddie reden. Ich habe gehört, was mein Vater über meine Mutter zu sagen hat, aber mein Vater liebt sie nicht. Jetzt möchte ich hören, was jemand, der sie liebt, dazu zu sagen hat.«
»Du glaubst also, daß O’Hare deine Mutter noch immer liebt?«
»Du hast doch seine Bücher gelesen«, entgegnete Ruth.
»Bis zum Erbrechen«, wiederholte Allan. Er ist ein furchtbarer Snob, dachte Ruth. Aber sie mochte Snobs.
Dann kam Eddie an den Tisch zurück.
»Wir haben gerade über Sie geredet, O’Hare«, sagte Allan nonchalant. Eddie wirkte nervös.
»Ich habe ihnen von dir und meiner Mutter erzählt«, sagte Ruth zu Eddie.
Eddie gab sich betont gelassen, obwohl sein feuchtes Wollsakko an ihm klebte wie ein Leichenhemd. Im Kerzenlicht sah er das gelbe Sechseck in der Iris von Ruths rechtem Auge; wenn die Kerzen flackerten oder Ruth ihr Gesicht ins Licht drehte, veränderte es ihre Augenfarbe – von Braun zu Bernsteinfarben –, genauso wie Marions von Blau zu Grün.
»Ich liebe deine Mutter«, begann Eddie ohne jede Befangenheit. Er brauchte nur an Marion zu denken, und sofort gewann er die Fassung zurück, die er auf dem Squashcourt mit den drei Sätzen gegen Jimmy verloren hatte – unwiederbringlich, wie ihm schien.
Allan machte ein erstauntes Gesicht, als Eddie den Kellner um etwas Ketchup und eine Papierserviette bat. Es war kein Restaurant, in dem Ketchup serviert wurde, und Papierservietten gab es hier auch nicht. Allan ergriff die Initiative; das war eine seiner liebenswerten Eigenschaften. Er ging auf die 2nd Avenue hinaus und machte sich rasch auf die Suche nach einem einfacheren Restaurant. Fünf Minuten später kam er mit einem halben Dutzend Papierservietten und einer Flasche Ketchup zurück, die nur noch knapp ein Viertel voll war.
»Ich hoffe, das genügt«, sagte er. Er hatte fünf Dollar für die fast leere Flasche Ketchup bezahlt.
»Es ist reichlich für meine Zwecke«, sagte Eddie.
»Vielen Dank, Allan«, sagte Ruth herzlich. Galant warf er ihr eine Kußhand zu.
Eddie goß einen Klecks Ketchup auf seinen Brotteller, wo er sogleich verlief. Der Kellner sah angewidert zu.
»Tauch deinen rechten Zeigefinger in den Ketchup«, sagte Eddie zu Ruth.
»Meinen Finger?«
»Bitte. Ich möchte nur feststellen, woran du dich noch erinnerst.«
»Woran ich mich erinnere …«, wiederholte Ruth. Sie tunkte ihren Zeigefinger in den Ketchup und zog dabei die Nase kraus, wie ein kleines Kind.
»Und jetzt drück ihn auf die Serviette«, verlangte Eddie und schob ihr eine Papierserviette hin. Ruth zögerte, aber Eddie nahm ihre Hand und drückte ihren rechten Zeigefinger behutsam auf die Serviette.
Ruth schleckte den restlichen Ketchup von ihrem Finger, während Eddie die Serviette genau da plazierte, wo er sie haben wollte: hinter Ruths Wasserglas, so daß man den Fingerabdruck vergrößert sah. Und da war sie, so, wie sie immer sein würde: die vollkommen senkrechte Narbe
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