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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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an ihrem rechten Zeigefinger; durch das Wasserglas betrachtet, war sie fast doppelt so groß wie in Wirklichkeit.
    »Erinnerst du dich?« fragte Eddie. Das gelbe Sechseck in Ruths rechtem Auge war trüb vor Tränen. Sie konnte nicht sprechen. »Kein Mensch wird jemals die gleichen Fingerabdrücke haben wie du«, sagte Eddie zu ihr, genau wie an jenem Tag, an dem ihre Mutter fortgegangen war.
    »Und meine Narbe wird immer dableiben?« fragte Ruth, so wie sie ihn vor zweiunddreißig Jahren als Vierjährige gefragt hatte.
    »Deine Narbe wird immer ein Teil von dir sein«, versprach Eddie, wie er es ihr damals versprochen hatte.
    »Ja«, flüsterte Ruth, »ich erinnere mich. Ich erinnere mich an fast alles«, sagte sie unter Tränen.
    Später, allein in ihrer Suite in Stanhope, mußte Ruth daran denken, wie Eddie ihre Hand gehalten hatte, solange sie weinte. Und sie dachte daran, wie wunderbar verständnisvoll Allan gewesen war. Ohne ein Wort, was sehr untypisch für ihn war, hatte er Karl und Melissa – und, höchst bemerkenswert, sich selbst – an einen anderen Tisch verfrachtet. Er hatte den Oberkellner ausdrücklich um einen weit entfernten Tisch gebeten, außerhalb der Hörweite von Ruth und Eddie. Ruth bekam gar nicht mit, wann Allan, Karl und Melissa das Restaurant verließen. Als sie und Eddie am Ende darüber debattierten, wer die Rechnung begleichen durfte – Ruth hatte eine ganze Flasche Wein getrunken, Eddie keinen Schluck –, unterbrach sie der Kellner und teilte ihnen mit, daß Allan bereits alles bezahlt habe.
    Jetzt, im Schlafzimmer ihrer Suite, spielte Ruth mit dem Gedanken, Allan anzurufen und sich bei ihm zu bedanken, aber wahrscheinlich schlief er längst. Es war kurz vor eins. Und es war so anregend gewesen, sich mit Eddie zu unterhalten und ihm zuzuhören, daß sie es nicht riskieren wollte, sich ihre Stimmung durch ein Gespräch mit Allan verderben zu lassen.
    Allans einfühlsames Verhalten hatte sie beeindruckt, doch ihre Gedanken kreisten ausschließlich um ihre Mutter, auf die Eddie sofort zu sprechen gekommen war. Obwohl Ruth wahrhaftig nichts mehr zu trinken brauchte, öffnete sie eines dieser tödlichen Cognacfläschchen, die in jeder Minibar lauern. Sie lag im Bett, trank in kleinen Schlucken das starke Zeug und überlegte, was sie in ihr Tagebuch schreiben sollte; es gab so viel zu berichten.
    Vor allem hatte Eddie ihr versichert, daß ihre Mutter sie geliebt hatte. (Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben!) Ted hatte es zwar wiederholt beteuert – zweiunddreißig Jahre lang –, aber seine Einstellung Marion gegenüber war so zynisch, daß Ruth ihm nie so recht glauben konnte. Natürlich hatte sie zu hören bekommen, daß Marion nach dem Tod ihrer Söhne unfähig gewesen sei, noch einmal ein Kind zu lieben; daß sie Angst gehabt habe, Ruth zu lieben, weil sie befürchtete, ihre einzige Tochter durch eine ähnliche Katastrophe zu verlieren wie ihre beiden Söhne.
    Doch Eddie hatte Ruth von dem Augenblick berichtet, in dem Marion den Fleck in Ruths Auge entdeckt hatte – das gleiche hellgelbe Sechseck wie das in ihrem eigenen rechten Auge. Und er erzählte ihr, daß Marion voller Sorge zu weinen begonnen habe, denn für sie bedeutete dieser gelbe Fleck, daß Ruth womöglich so werden würde wie sie, und das wollte sie auf gar keinen Fall.
    Als Ruth das hörte, erkannte sie auf einmal, wieviel Liebe ihre Mutter in sich trug – weil sie ihrer Tochter nichts von sich wünschte.
    Ruth und Eddie hatten sich darüber unterhalten, wem Ruth ähnlicher war, ihrer Mutter oder ihrem Vater. (Je länger er ihr zuhörte, um so mehr Züge von Marion entdeckte er an ihr.) Das Thema war Ruth enorm wichtig, weil sie lieber gar keine Mutter werden wollte als eine schlechte.
    »Genau das hat deine Mutter auch gesagt«, berichtete Eddie.
    »Aber kann eine Mutter etwas Schlimmeres tun, als ihr Kind im Stich zu lassen?«
    »Das sagt dein Vater, habe ich recht?«
    In sexueller Hinsicht sei ihr Vater »ein Raubtier«, meinte Ruth, aber als Vater sei er »ganz passabel« gewesen. Er hatte sie nie vernachlässigt. Als erwachsene Frau jedoch verabscheute sie ihn. Als Kind hatte sie ihn abgöttisch geliebt – immerhin war er dagewesen.
    »Er hätte einen schrecklichen Einfluß auf die Jungen gehabt, wenn sie am Leben geblieben wären«, meinte Eddie. Ruth pflichtete ihm spontan bei. »Deshalb hat deine Mutter schon früher mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verlassen – ich meine, schon bevor die Jungen

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