Witwe für ein Jahr (German Edition)
hatte.
Ruth hatte Hannahs Mutter, die von einer geradezu extremen Freundlichkeit und Gutmütigkeit war, von Anfang an gern gemocht. Sie las ungeheuer viel; eigentlich sah man sie nie ohne ein Buch. Mrs. Grant hatte Ruth einmal erklärt, sie habe deshalb nur ein Kind bekommen, weil ihr nach Hannahs Geburt die viele Zeit, die ihr früher zum Lesen geblieben war, gefehlt habe. Hannah behauptete, ihre Mutter habe es kaum erwarten können, daß sie alt genug wurde, um sich allein zu vergnügen, damit sie sich wieder ihren Büchern zuwenden konnte. Und Hannah »vergnügte sich« wahrhaftig! (Vielleicht war ihre Mutter schuld daran, daß sie eine so oberflächliche und ungeduldige Leserin wurde.)
Während Ruth Hannah darum beneidete, daß sie einen Vater hatte, der seiner Frau treu war, meinte Hannah, wenn er ein bißchen mehr hinter den Frauen herlaufen würde, wäre er vielleicht etwas weniger berechenbar. »Weniger berechenbar« hieß bei Hannah soviel wie »interessanter«. Sie behauptete, die Abgehobenheit ihres Vaters sei die Folge seiner vielen Jahre an der juristischen Fakultät, wo er sich durch das abstrakte Wiederkäuen theoretischer Gesetzesgrundlagen anscheinend so weit von der Praxis entfernt hatte, daß er nichts mehr damit anfangen konnte. Für Anwälte hatte er nur noch Verachtung übrig.
Professor Grant hatte seine Tochter dazu gedrängt, Fremdsprachen zu studieren; er hegte für sie die große Hoffnung, daß sie im internationalen Bankgeschäft Karriere machen würde. (Seine besten und intelligentesten Studenten von der Harvard Law School waren im internationalen Bankgeschäft gelandet.)
Auch für Journalisten hatte Hannahs Vater nur Verachtung übrig. Hannah war noch in Middlebury, wo sie Französisch und Deutsch im Hauptfach studierte, als sie sich für den Journalismus entschied. Sie war sich ihrer Sache so sicher, wie Ruth sich schon seit Jahren sicher war, daß sie Romanautorin werden wollte. Ganz sachlich und fest entschlossen verkündete Hannah, sie werde nach New York gehen und dort als Journalistin Karriere machen. Sobald sie mit dem College fertig war, bat sie ihre Eltern, sie zu diesem Zweck für ein Jahr nach Europa zu schicken. Dort könne sie ihr Französisch und ihr Deutsch perfektionieren und ein Reisetagebuch führen, um auf diese Weise ihre »Beobachtungsgabe« zu schärfen, wie sie es ausdrückte.
Ruth, die sich an der Universität von Iowa für ein Aufbaustudium in Creative Writing beworben hatte (und angenommen worden war), wurde von Hannahs Vorschlag überrumpelt, sie doch nach Europa zu begleiten. »Wenn du Schriftstellerin werden willst, brauchst du etwas, worüber du schreiben kannst«, erklärte Hannah ihrer Freundin.
Ruth wußte schon damals, daß das nicht der richtige Weg war, zumindest nicht für sie. Sie brauchte nur die Zeit, um zu schreiben; das, worüber sie schreiben wollte, war in ihrer Vorstellung bereits vorhanden. Trotzdem verschob sie ihr Aufbaustudium in Iowa. Schließlich konnte ihr Vater es sich leisten. Und ein Jahr mit Hannah in Europa war bestimmt vergnüglich.
»Außerdem«, erklärte Hannah, »ist es höchste Zeit, daß dich einer flachlegt. Wenn du mit mir zusammen bist, kannst du Gift drauf nehmen, daß es früher oder später passiert.«
In London, der ersten Etappe ihrer Reise, war es nicht passiert, aber in der Bar des Royal Court Hotel war Ruth von einem jungen Mann befummelt worden. Sie hatte ihn in der National Portrait Gallery getroffen, wo sie sich die Porträts einiger ihrer Lieblingsschriftsteller angesehen hatte. Der junge Mann ging mit ihr ins Theater und anschließend in ein teures italienisches Restaurant in der Nähe des Sloane Square. Er war Amerikaner, lebte aber in London; sein Vater war irgendein Diplomat. Ruth war noch nie mit einem jungen Mann ausgegangen, der Kreditkarten besaß, auch wenn sie vermutlich seinem Vater gehörten.
Statt sich von ihm aufs Kreuz legen zu lassen, betrank sich Ruth mit ihm in der Bar des Royal Court, denn bis sie endlich den Mut aufbrachte, den jungen Mann mit ins Hotel zu nehmen, »nutzte« Hannah ihr gemeinsames Hotelzimmer bereits für ihre Zwecke. Hannah schlief geräuschvoll mit einem Libanesen, den sie in einer Bank aufgelesen hatte; sie hatte ihn kennengelernt, als sie einen Travellerscheck einlöste. (»Meine erste Erfahrung mit dem internationalen Bankgeschäft«, hatte Hannah in ihr Tagebuch geschrieben. »Endlich wäre mein Vater stolz auf mich gewesen.«)
Die zweite Stadt auf ihrer
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