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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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meiner Mutter hören?«
    »Wenn du aus Europa zurückkommst?« flüsterte Hannah. »Und wann ist das? In zwei oder drei Wochen? Mein Gott, vielleicht lernt er bis dahin eine andere kennen! Und wie steht es mit dir? Auch du könntest einen anderen Mann kennenlernen!«
    »Wenn einer von uns jemand anderen kennenlernt«, entgegnete Ruth, »ist es erst recht gut, daß wir nicht miteinander geschlafen haben.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, wurde ihr erschreckend klar, daß sie sich mehr darum sorgte, Allan als Lektor zu verlieren denn als Ehemann.
    »Also, jetzt erzähl mal von Eddie O’Hare«, flüsterte Hannah.
    »Er ist sehr lieb«, begann Ruth. »Er ist ziemlich merkwürdig, aber vor allem lieb.«
    »Und ist er sexy?« fragte Hannah. »Ich meine, kannst du ihn dir mit deiner Mutter vorstellen? Deine Mutter war eine wunderschöne …«
    »Eddie ist ein bißchen zu hübsch«, antwortete Ruth.
    »Willst du damit sagen, er ist unmännlich?« fragte Hannah. »Mein Gott, er wird doch nicht schwul sein?«
    »Nein, nein, schwul ist er nicht. Er ist auch nicht unmännlich«, sagte Ruth. »Er ist einfach ungeheuer sanft und liebenswürdig. Und er wirkt erstaunlich zerbrechlich.«
    »Ich dachte, er ist groß.«
    »Groß und zerbrechlich.«
    »Kann ich mir nicht vorstellen, hört sich merkwürdig an.«
    »Ich habe doch gesagt, daß er merkwürdig ist«, sagte Ruth. »Merkwürdig und lieb und zerbrechlich. Und er verehrt meine Mutter noch genauso wie damals. Ich meine, er würde sie morgen heiraten!«
    »Wirklich?« flüsterte Hannah. »Aber wie alt wäre sie denn jetzt? Irgendwas über siebzig?«
    »Einundsiebzig«, sagte Ruth. »Und Eddie ist erst achtundvierzig.«
    »Wirklich merkwürdig«, flüsterte Hannah.
    »Willst du denn nichts von meiner Mutter hören?« wiederholte Ruth.
    »Einen Augenblick«, sagte Hannah. Sie entfernte sich vom Telefon, dann war sie wieder da. »Ich dachte, er hätte was gesagt, aber er hat nur geschnarcht.«
    »Ich kann es dir auch ein andermal erzählen, wenn es dich jetzt nicht interessiert«, sagte Ruth kühl. (Sie hatte fast ihre Vorlesestimme.)
    »Aber natürlich interessiert es mich!« flüsterte Hannah. »Ich nehme an, du und Eddie, ihr habt euch auch über deine toten Brüder unterhalten.«
    »Wir haben uns über die Fotos meiner toten Brüder unterhalten.«
    »Das will ich doch hoffen!«
    »Es war eigenartig, weil es mehrere gab, an die er sich erinnern konnte und ich nicht. Und es gab andere, an die ich mich erinnern konnte, aber er nicht. Wir waren uns einig, daß wir diese Fotos wahrscheinlich erfunden haben. Dann gab es noch welche, an die wir uns beide erinnern konnten, und das waren vermutlich die, die wirklich existiert haben. Ich glaube, jeder von uns hatte mehr erfundene Fotos im Kopf als echte.«
    »Du mit deinem ewigen ›Was ist echt, und was ist erfunden‹«, meinte Hannah. »Dein Lieblingsthema …«
    Ruth verübelte Hannah ihren offenkundigen Mangel an Interesse, sprach aber dennoch weiter. »Das Foto, auf dem Thomas Timothys Knie verarztet, hat es eindeutig gegeben«, sagte sie. »Und an das, auf dem Thomas größer ist als meine Mutter und einen Hockey-Puck zwischen den Zähnen hat, können wir uns auch beide erinnern.«
    »Ich erinnere mich an das, auf dem deine Mutter im Bett liegt und die Füße deiner Brüder zu sehen sind«, sagte Hannah.
    Es war keineswegs verwunderlich, daß Hannah sich an dieses Foto erinnerte, denn Ruth hatte es damals mit nach Exeter genommen und später nach Middlebury; derzeit hing es im Schlafzimmer ihres Hauses in Vermont. (Natürlich hatte Eddie Ruth verschwiegen, daß er dieses Bild von Marion zum Onanieren verwendet und zu diesem Zweck die Füße abgedeckt hatte. Als Ruth die Erinnerung zutage förderte, daß die Füße ihrer Brüder mit »Papierstreifen« überklebt worden waren, hatte Eddie behauptet, er könne sich an nichts dergleichen erinnern. »Dann habe ich mir das bestimmt auch ausgedacht«, hatte Ruth eingeräumt.)
    »Und ich erinnere mich an das Foto von deinen Brüdern in Exeter, wo sie unter diesem hirnrissigen, alten Spruch stehen: ›Kommt herbei, ihr Knaben, auf daß ihr zu Männern werdet‹«, sagte Hannah. »Mein Gott, haben diese Burschen gut ausgesehen.«
    Ruth hatte Hannah das Foto von ihren Brüdern gezeigt, als sie das erste Mal zusammen nach Sagaponack gefahren waren. Damals studierten sie beide in Middlebury. Das Foto hing im Schlafzimmer ihres Vaters, und Ruth war mit Hannah hineingegangen, während Ted in

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