Witwe für ein Jahr (German Edition)
hatte nichts mit seiner körperlichen Fitneß und seiner Statur zu tun. Teds Stirn war faltenlos; unter den Augen hatte er keine Tränensäcke. Ruths Krähenfüße waren fast so ausgeprägt wie seine. Seine Gesichtshaut war so glatt und makellos wie die eines Jünglings, der gerade erst angefangen hat, sich zu rasieren, oder sich nur zweimal in der Woche zu rasieren braucht.
Seit Marion ihn verlassen und er Sepiatinte in die Toilette gekotzt und daraufhin allen harten Sachen abgeschworen hatte (er trank nur noch Bier und Wein), schlief er tief und fest wie ein Kind. Auch wenn er noch so sehr unter dem Verlust seiner Söhne und später dem ihrer Fotos gelitten hatte, inzwischen schien er sein Leid ad acta gelegt zu haben. Es war schlichtweg empörend, wie tief und fest und vor allem wie lange er schlafen konnte!
In Ruths Augen war ihr Vater ein Mensch ohne Gewissen und ohne die üblichen Ängste; Streß kannte er nicht. Wie schon Marion festgestellt hatte, tat er so gut wie gar nichts; als Autor und Illustrator von Kinderbüchern hatte er schon vor langer Zeit (bereits 1942) gemessen an seinem bescheidenen Ehrgeiz unverhältnismäßig viel Erfolg gehabt. Seit Jahren hatte er nichts mehr geschrieben, aber das war auch nicht nötig. Ruth fragte sich, ob er jemals wirklich hatte schreiben wollen.
Die Maus, die in der Wand krabbelt , Die Tür im Boden, Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen … es gab nirgends auf der Welt eine Buchhandlung (mit einer anständigen Kinderbuchabteilung), die Ted Coles Backlisttitel nicht vorrätig gehabt hätte. Videokassetten gab es davon auch; Ted hatte die Zeichnungen für die Animation gemacht. Inzwischen zeichnete er eigentlich nur noch.
Zwar hatte sein Berühmtheitsgrad in den Hamptons abgenommen, aber anderswo war Ted noch gefragt. Jeden Sommer verführte er mindestens eine Mutter bei einem Sonntagsschriftsteller-Kongreß in Kalifornien, einem zweiten in Colorado und einem dritten in Vermont. Auch in Studentenkreisen war er sehr beliebt, vor allem an staatlichen Colleges und Universitäten in abgelegenen Staaten. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen waren die College-Studentinnen von heute zu jung, um sich selbst von einem so alterslosen Mann wie Ted verführen zu lassen, aber an der Einsamkeit vernachlässigter Dozentengattinnen, deren Kinder erwachsen und flügge geworden waren, hatte sich nichts geändert; und diese Frauen waren für Ted noch immer relativ jung.
Bei so vielen Schriftstellerkongressen und so vielen verschiedenen Colleges war es erstaunlich, daß sich Ted Coles Wege in zweiundreißig Jahren nicht ein einziges Mal mit denen von Eddie O’Hare gekreuzt hatten; aber Eddie hatte sich auch große Mühe gegeben, eine solche Begegnung zu vermeiden. Dazu brauchte er sich jeweils nur nach den Gastdozenten und Lehrbeauftragten zu erkundigen; sobald Teds Name fiel, lehnte er entsprechende Angebote ab.
Sofern die Krähenfüße ein Maßstab waren, mußte Ruth befürchten, daß man ihr ihr Alter eher ansah als ihrem Vater. Doch noch stärker belastete sie, daß seine schlechte Meinung von der Ehe sie womöglich nachhaltig beeinflußte.
An ihrem dreißigsten Geburtstag, den sie mit ihrem Vater und Hannah in New York gefeiert hatte, machte sie eine für sie untypisch unbeschwerte Bemerkung über ihre wenigen und immer schnell scheiternden Beziehungen zu Männern.
»Tja, Daddy«, sagte sie zu ihm, »wahrscheinlich dachtest du, ich wäre längst verheiratet und du könntest aufhören, dir Sorgen um mich zu machen.«
»Nein, Ruthie«, entgegnete er, »erst wenn du verheiratet bist, fange ich an, mir Sorgen um dich zu machen.«
»Genau, wozu heiraten?« sagte Hannah. »Du kannst doch alle Kerle haben, die du willst.«
»Männer sind im Grunde alle untreu, Ruthie«, erklärte ihr Vater. Das hatte er ihr schon eingeschärft, bevor sie nach Exeter ging, sprich: als sie fünfzehn war, aber auch jetzt noch fand er mindestens zweimal im Jahr Gelegenheit, es zu wiederholen.
»Wenn ich aber ein Kind will …«, sagte Ruth. Sie wußte, was Hannah davon hielt; Hannah wollte keine Kinder. Und den Standpunkt ihres Vaters kannte Ruth nur zu gut: Ein Kind zu haben bedeutete, in ständiger Angst zu leben, daß diesem Kind etwas zustoßen könnte; dazu kam noch, daß Ruths Mutter den »Muttertest« nicht bestanden hatte, wie ihr Vater es ausdrückte.
»Willst du denn ein Kind, Ruthie?« fragte ihr Vater.
»Ich weiß nicht recht«, gestand Ruth.
»Dann kannst
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