Witwe für ein Jahr (German Edition)
Thomas und Timothy. Die Coles hatten für ihre Jungen nie ein Kindermädchen gebraucht, denn damals war Marion ganz Mutter gewesen. Für Ruth hingegen hatten sie buchstäblich ununterbrochen Kindermädchen, denn auch wenn Ted eher als Marion dazu bereit war, sich um seine Tochter zu kümmern, kannte er sich mit den täglich erforderlichen Kleinigkeiten nicht gut genug aus. Marion war zwar unfähig, diese Aufgaben zu erfüllen, wußte aber wenigstens, was im einzelnen zu geschehen hatte und daß sich eine verantwortungsbewußte Person darum kümmern mußte.
Im Sommer 1958 schließlich war es so weit, daß Marion sich einbildete, die Hauptursache für Teds Unglück zu sein. Fünf Jahre nach dem Tod von Thomas und Timothy war sie überzeugt, daß sie ihm größeren Kummer bereitete als die toten Söhne. Und sie befürchtete, auf die Dauer womöglich nicht verhindern zu können, daß sie ihre Tochter liebte. Und wenn ich zulasse, daß ich Ruth liebe, dachte Marion, was soll ich dann tun, wenn ihr etwas zustößt? Sie wußte, daß sie es nicht noch einmal ertragen konnte, ein Kind zu verlieren.
Vor kurzem hatte Ted Marion eröffnet, er wolle es den Sommer über mit einer »Trennung auf Probe« versuchen – nur um festzustellen, ob sie vielleicht beide glücklicher wären, wenn sie getrennt lebten. Seit Jahren, schon lange vor dem Tod ihrer geliebten Söhne, hatte Marion erwogen, sich von Ted scheiden zu lassen. Und nun wollte er sich von ihr trennen! Wäre es zu einer Scheidung gekommen, als Thomas und Timothy noch lebten, wäre die Frage, bei welchem Elternteil die Kinder blieben, überhaupt nicht aufgetaucht; es waren ihre Jungen, sie hätten sich für sie entschieden. Einen so offensichtlichen Tatbestand hätte Ted niemals anfechten können.
Aber jetzt … Marion wußte nicht, was sie tun sollte. Es gab Zeiten, in denen sie es nicht ertragen konnte, mit Ruth auch nur zu reden. Natürlich wollte dieses Kind zu seinem Vater.
Läuft es also darauf hinaus? überlegte Marion. Er nimmt alles übrige: das Haus, das sie liebte, aber nicht haben wollte, Ruth, die zu lieben sie entweder unfähig war oder sich nicht gestattete. Marion würde ihre Jungen mitnehmen. Ted konnte von Thomas und Timothy das behalten, woran er sich erinnerte. (Ich behalte alle Fotos, beschloß Marion.)
Das Tuten der Fähre riß sie aus ihren Gedanken. Sie preßte den Zeigefinger, der unablässig die Konturen von Eddie O’Hares nackten Schultern nachgefahren war, so fest auf die Seite des Jahrbuchs, daß der Nagel abbrach. Die Fingerspitze begann zu bluten. Sie bemerkte die Kerbe, die ihr Nagel an Eddies Schulter hinterlassen hatte. Ein winziges Blutströpfchen spritzte auf die Seite, aber sie befeuchtete einen Finger mit Speichel und wischte das Blut weg. Erst da kam ihr zum Bewußtsein, daß Ted Eddie unter der Bedingung eingestellt hatte, daß er den Führerschein besaß, und daß die Sache mit Eddies Ferienjob vereinbart worden war, bevor Ted ihr eröffnet hatte, daß er es mit einer »Trennung auf Probe« versuchen wolle.
Die Fähre tutete ein zweites Mal. Der dunkle Ton unterstrich, was mittlerweile offensichtlich war: Ted wußte schon seit geraumer Zeit, daß er sie verlassen wollte! Überrascht stellte sie fest, daß bei der Erkenntnis, daß er sie hintergangen hatte, keinerlei Wut in ihr aufstieg; sie war nicht einmal sicher, ob sie genügend Haß auf Ted empfand, um daraus schließen zu können, daß sie ihn einmal geliebt hatte. Hatte für sie mit dem Tod von Thomas und Timothy wirklich alles aufgehört oder sich verändert? Bisher war sie davon ausgegangen, daß Ted sie auf seine Art noch immer liebte; und doch war er es, der die Trennung in die Wege leitete.
Als sie die Wagentür öffnete und ausstieg, um sich die von der Fähre kommenden Passagiere genauer anzusehen, war sie so traurig wie immer in den vergangenen fünf Jahren; doch in ihrem Kopf herrschte mehr Klarheit als je zuvor. Sie würde Ted gehen lassen, sie würde sogar ihre Tochter mit ihm gehen lassen. Sie würde die beiden verlassen, bevor Ted Gelegenheit hatte, sie zu verlassen. Während Marion auf die Anlegestelle zuging, dachte sie: Ich werde alles aufgeben, alles bis auf die Fotos. Für eine Frau, die soeben eine so folgenschwere Entscheidung getroffen hatte, war ihr Schritt unverhältnismäßig fest und sicher. Jedem, der sie sah, erschien sie ruhig und heiter.
Der erste Autofahrer, der die Fähre verließ, war ein Narr. Er war so überwältigt von der Schönheit
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