Witwe für ein Jahr (German Edition)
der Frau, die er auf sich zukommen sah, daß er von der Straße abkam und im steinigen Ufersand landete; sein Wagen sollte über eine Stunde dort feststecken, doch selbst als er seine mißliche Lage erkannte, konnte er die Augen nicht von Marion abwenden. Beim besten Willen nicht. Marion bemerkte das Mißgeschick gar nicht, sie ging einfach langsam weiter.
Für den Rest seines Lebens glaubte Eddie O’Hare an Schicksal: In dem Moment, als er den Fuß an Land setzte, stand Marion vor ihm.
Eddie langweilt sich – und ist scharf
Armer Eddie O’Hare. Sich mit seinem Vater in der Öffentlichkeit zu zeigen, empfand er jedesmal als schwere Demütigung. Die lange Fahrt zu den Docks in New London und die scheinbar noch längere Zeit des Wartens (mit seinem Vater) auf die Ankunft der Fähre nach Orient Point bildeten keine Ausnahme. Den Leuten in Exeter waren Minty O’Hares Gewohnheiten so vertraut wie seine atemerfrischenden Pfefferminzpastillen; Eddie hatte gelernt, sich damit abzufinden, daß Schüler wie Lehrer ungeniert die Flucht ergriffen, wenn sein Vater nahte. Mintys Talent, seine Zuhörer, egal welche, zu langweilen, war berüchtigt. Sein einschläfernder Unterrichtsstil war allgemein bekannt; die Schüler, die O’Hare senior in Schlaf gewiegt hatte, waren Legion.
Minty bediente sich keineswegs einer ausgeklügelten Methode, um andere zu langweilen; seine Waffe war ständiges Wiederholen. Er hatte die Angewohnheit, die seiner Ansicht nach bedeutsamen Passagen aus den am Vortag aufgegebenen Texten vorzulesen, da er annahm, daß sie den Schülern noch frisch im Gedächtnis hafteten. Allerdings war zu beobachten, daß deren geistige Wachheit mit fortschreitendem Unterricht dahinschwand, denn Minty entdeckte stets eine Menge bedeutsame Passagen, die er dann mit viel Gefühl und mit zahlreichen bedeutsamen Pausen vorlas; die längeren Pausen benötigte er, um seine Pfefferminzpastillen zu lutschen. Auf die unablässige Wiederholung dieser sattsam bekannten Passagen folgte kaum eine Diskussion – auch weil niemand die offensichtliche Bedeutsamkeit der jeweiligen Stellen hätte bestreiten können. Höchstens die Notwendigkeit, sie laut vorzulesen, hätte sich anzweifeln lassen. Außerhalb des Englischunterrichts wurde Mintys Unterrichtsmethode so oft erörtert, daß Eddie nicht selten das Gefühl hatte, den Unterricht seines Vaters selbst durchleiden zu müssen, obwohl dies nie der Fall war.
Eddie hatte anderswo gelitten. Er war dankbar dafür, daß er von früher Kindheit an die meisten Mahlzeiten im Speisesaal der Schule hatte einnehmen dürfen, erst an einem Tisch für Kollegiumsmitglieder, an dem noch eine andere Familie saß, und später im Kreis seiner Mitschüler. Somit waren die Schulferien die einzige Zeit, in der die Familie O’Hare zu Hause aß. Auf einem ganz anderen Blatt standen die Dinnerpartys, die Dot O’Hare regelmäßig veranstaltete, auch wenn es im Kollegenkreis wenige Ehepaare gab, die ihre zähneknirschende Zustimmung fanden. Bei diesen Dinnerpartys langweilte sich Eddie nur deshalb nicht, weil sich seine Anwesenheit darauf zu beschränken hatte, daß er sich kurz blicken ließ, um die Gäste höflich zu begrüßen.
Doch bei den Familienmahlzeiten in den Schulferien war Eddie dem aberwitzigen Phänomen ausgesetzt, das der perfekten Ehe seiner Eltern zugrunde lag: Sie langweilten einander nicht, weil keiner dem anderen zuhörte. Sie gingen liebevoll und höflich miteinander um. Eddies Mutter gestattete ihrem Mann, in aller Ausführlichkeit zu reden, und dann kam sie an die Reihe – fast immer mit einem Thema, das nichts mit dem soeben Gesagten zu tun hatte. Die Unterhaltungen von Mr. und Mrs. O’Hare waren ein Meisterwerk an zusammenhangslosen Monologen; da Eddie sich nicht daran beteiligte, vertrieb er sich die Zeit am liebsten damit, mit sich selbst zu wetten, ob sein Vater oder seine Mutter sich später an irgend etwas erinnern würde, was der andere gesagt hatte.
Ein Abend kurz vor Eddies Abreise war dafür ein Paradebeispiel. Das Schuljahr war zu Ende, die Festakte, bei denen die Abschlußurkunden verliehen wurden, waren vorüber, und Minty O’Hare philosophierte über die, wie er es nannte, Indolenz der Schüler im Sommertrimester. »Ich weiß ja, daß sie an die Sommerferien denken«, sagte Minty wohl zum hundertstenmal. »Mir ist ja klar, daß das Einsetzen des warmen Wetters an sich schon zum Schlendrian verleitet, aber doch nicht zu einem Schlendrian in derart unerhörtem
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