Witwe für ein Jahr (German Edition)
weite Windjacke, die wie eine Baseball-Trainingsjacke geschnitten war. Er sah nicht aus, als könnte er sich eine Prostituierte leisten; und doch folgte er Ruth, als hielte er sie dafür. Endlich verschwand er, und sie machte sich nicht weiter Gedanken um ihn.
Zwei Stunden lang streifte sie durch das Viertel. Gegen elf Uhr stellte sie fest, daß einige Thailänderinnen an den Stoofsteeg zurückgekehrt waren; die Afrikanerinnen waren verschwunden. Und um den Oudekerksplein sah man anstelle der einen fetten Frau, die vielleicht auch aus Ghana stammte, ein Dutzend oder mehr braunhäutige Prostituierte – wieder die aus Kolumbien und der Dominikanischen Republik.
Am Oudezijds Voorburgwal bog Ruth aus Versehen in eine Sackgasse ein. Der Slapersteeg verengte sich rasch und endete an drei oder vier »Schaufenstern«, zu denen man durch eine einzige Tür gelangte. In dieser Tür stand eine dicke, braunhäutige Prostituierte, dem Akzent nach vermutlich Jamaikanerin, die Ruth am Arm packte. In den Zimmern war noch eine Putzfrau am Werk, und zwei weitere Prostituierte machten sich vor einem langen Make-up-Spiegel zurecht.
»Wen suchen Sie?« fragte die dicke braune Frau.
»Niemand«, antwortete Ruth. »Ich habe mich verlaufen.«
Die Putzfrau arbeitete verdrossen weiter, aber die Frauen vor dem Spiegel und die Dicke, die Ruths Arm fest umklammert hielt, lachten.
»Das kann man wohl sagen«, meinte die Dicke und führte Ruth am Arm aus der Sackgasse. Dabei knetete sie hingebungsvoll ihren Arm, als wollte sie Ruth massieren, obwohl diese nicht darum gebeten hatte.
»Vielen Dank«, sagte Ruth, als hätte sie sich wirklich verlaufen – und wäre wirklich gerettet worden.
»Keine Ursache, Herzchen.«
Als Ruth diesmal die Warmoesstraat überquerte, bemerkte sie die Polizeiwache. Zwei uniformierte Polizisten unterhielten sich mit dem stämmigen, kräftig aussehenden Mann in der Windjacke, der ihr gefolgt war. Gut, dachte Ruth, sie haben ihn festgenommen! Dann merkte sie, daß der wie ein Schläger aussehende Mann ein Polizist in Zivil war; anscheinend gab er den beiden Uniformierten Anweisungen. Beschämt eilte Ruth weiter, als wäre sie eine Verbrecherin! De Wallen war ein kleines Viertel; ein Vormittag hatte genügt, um aufzufallen – um Verdacht zu erregen.
Sosehr Ruth De Wallen am Vormittag dem Viertel vorzog, in das es sich nachts verwandelte, so sehr bezweifelte sie, daß es der richtige Ort und die richtige Tageszeit für ihre Figuren war, um eine Prostituierte anzusprechen und ihr bei der Arbeit zuzusehen. Womöglich mußten sie den ganzen Vormittag auf den ersten Freier warten!
Nun blieb Ruth nicht mehr viel Zeit, um, praktisch an ihrem Hotel vorbei, in die Bergstraat zu gehen, wo sie damit rechnete, Rooie in ihrem Fenster anzutreffen; es war kurz vor Mittag. Diesmal hatte Rooie eine weniger drastische Verwandlung durchgemacht. Der Kupferton ihrer roten Haare war weniger knallig; sie wirkten dunkler, fast kastanienbraun. Ihr knapper Halbschalen- BH und der Bikinislip, beides gebrochen weiß wie Elfenbein, ließen das Weiß ihrer Haut noch heller erscheinen. Wenn Rooie sich vorbeugte, konnte sie ihre Tür öffnen, ohne von ihrem Barhocker zu steigen; sie konnte im Fenster sitzenbleiben, während Ruth den Kopf zur Tür hineinstreckte. (Sie achtete sorgfältig darauf, nicht über die Schwelle zu treten.) »Ich habe jetzt keine Zeit«, sagte sie, »aber ich möchte wiederkommen.«
»Gut«, sagte Rooie achselzuckend. Ihre Gleichgültigkeit überraschte Ruth.
»Ich habe gestern abend nach Ihnen Ausschau gehalten, aber in Ihrem Fenster saß eine andere«, fuhr Ruth fort. »Sie sagte, Sie sind nachts bei Ihrer Tochter.«
»Ich bin jede Nacht bei meiner Tochter, und jedes Wochenende«, entgegnete Rooie. »Ich bin nur hier, wenn sie in der Schule ist.«
Ruth, die sich Mühe gab, freundlich zu sein, fragte: »Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Hör zu«, seufzte die Prostituierte, »ich werde nicht reich davon, daß ich mit dir rede.«
»Tut mir leid.« Ruth trat von der Tür zurück, als hätte man sie geschubst.
Bevor Rooie sich vorbeugte und die Tür schloß, sagte sie: »Komm wieder, wenn du Zeit hast.«
Ruth, die sich wie eine Idiotin vorkam, schalt sich selbst, weil sie so hohe Erwartungen in eine Prostituierte gesetzt hatte. Natürlich war Geld das Wichtigste, woran Rooie dachte, wenn auch nicht das einzige. Und Ruth hatte versucht, die Frau wie eine Freundin zu behandeln, wo doch eigentlich nicht mehr geschehen
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