Witwe für ein Jahr (German Edition)
war, als daß sie sie für das erste Gespräch bezahlt hatte!
Nachdem Ruth ohne Frühstück so lange unterwegs gewesen war, hatte sie mittags einen Bärenhunger. Sie war überzeugt, daß sie ein konfuses Interview gab. Sie konnte nicht eine einzige Frage beantworten, die sich auf Nichts für Kinder oder ihre beiden ersten Romane bezogen, ohne das Thema zu wechseln und auf irgendeinen Aspekt ihres im Entstehen begriffenen Romans zu kommen: auf die aufregende Vorstellung, ihren ersten IchRoman in Angriff zu nehmen; auf den unwiderstehlichen Gedanken, daß sich eine Frau in einem Augenblick, in dem ihr Urteilsvermögen aussetzt, so sehr demütigt, daß sie daraufhin ein völlig neues Leben beginnt. Noch während Ruth darüber sprach, ertappte sie sich bei dem Gedanken: Wem mache ich eigentlich etwas vor? Das alles hat mit mir zu tun! Habe ich nicht ein paar schlechte Entscheidungen getroffen? (Zumindest eine, erst vor kurzem …) Bin ich nicht drauf und dran, ein ganz neues Leben anzufangen? Oder ist Allan lediglich die »ungefährliche« Alternative zu einem Leben, vor dem ich mich fürchte?
Bei ihrem Vortrag am Spätnachmittag an der Vrije Universiteit – im Grunde war es der einzige Vortrag, den sie je hielt; sie überarbeitete ihn zwar immer wieder, aber im wesentlichen blieb er unverändert – empfand sie das, was sie sagte, als unaufrichtig. Hier stand sie und brach eine Lanze für die reine Phantasie im Gegensatz zur Erinnerung, rühmte die Überlegenheit des erfundenen Details gegenüber dem rein autobiographischen. Hier stand sie und pries die Tugend des Schriftstellers, frei erfundene Figuren zu schaffen, statt einen Roman mit eigenen Freunden und Familienmitgliedern zu bestücken – »Exliebhabern und jenen paar anderen enttäuschenden Menschen aus unserem wirklichen Leben« –, und doch kam der Vortrag auch diesmal wieder gut an. Die Zuhörer waren jedesmal begeistert. Was als Streit zwischen Ruth und Hannah begonnen hatte, war Ruth, der Romanautorin, von großem Nutzen gewesen; der Vortrag war zu ihrem Credo geworden.
Sie behauptete, das beste fiktive Detail sei ein bewußt gewähltes und nicht eines, an das man sich erinnerte, denn die fiktive Wahrheit sei nicht nur die Wahrheit dessen, was sich beobachten läßt, sprich: die rein journalistische Wahrheit. Das beste fiktive Detail sei das, das eine Figur oder Episode oder Atmosphäre eigentlich hätte kennzeichnen sollen. Fiktive Wahrheit sei das, was in einer Geschichte eigentlich hätte passieren sollen – nicht unbedingt das, was tatsächlich passiert ist.
Ruths Credo lief auf eine Kriegserklärung an den roman à clef hinaus, auf eine Herabsetzung des autobiographischen Romans, deren sie sich jetzt schämte, weil sie demnächst ihren bisher am ehesten autobiographischen Roman in Angriff nehmen wollte. Hannah hatte ihr immer vorgeworfen, daß sie über eine Ruth- und eine Hannah-Figur schrieb, und wenn es so war, worüber schrieb sie dann jetzt? Genaugenommen über eine Ruth-Figur, die eine schlechte, Hannah-gemäße Entscheidung trifft!
Daher war es für Ruth auch eine Qual, mit den Sponsoren von der Vrije Universiteit in einem Restaurant zu sitzen und sich ihre Komplimente anhören zu müssen; es waren wohlmeinende, aber zumeist recht akademisch-trockene Gestalten, die Theorien und theoretische Erörterungen den eher konkreten praktischen Grundlagen des Geschichtenerzählens vorzogen. Ruth haßte sich dafür, daß sie ihnen eine Erzähltheorie vorgesetzt hatte, an der sie inzwischen erhebliche Zweifel hegte.
Romane sind keine Diskussionen; eine Geschichte ist in sich stimmig oder eben nicht. Welche Rolle spielt es da, ob eine Einzelheit wirklich oder erfunden ist? Wichtig ist doch nur, daß sie realistisch wirkt und der Situation optimal entspricht. Das war keine grandiose Theorie, aber auf mehr konnte sich Ruthim Augenblick nicht einlassen. Es war höchste Zeit, diesen alten Vortrag aus dem Verkehr zu ziehen, und zur Strafe mußte Ruth die Komplimente für ihr früheres Credo über sich ergehen lassen.
Erst als sie (statt eines Desserts) ein zweites Glas Rotwein bestellte, merkte sie, daß sie zuviel getrunken hatte. In dem Moment fiel ihr auch ein, daß sie den schönen jungen Holländer namens Wim nach ihrem erfolgreichen, aber ärgerlichen Vortrag nicht in der Schlange der Autogrammjäger gesehen hatte. Dabei hatte er versprochen zu kommen.
Ruth mußte zugeben, daß sie sich darauf gefreut hatte, ihn wiederzusehen – und ihn
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