Witwe für ein Jahr (German Edition)
Lederoberteil wieder, das sie in Rooies flachem Schrank gesehen hatte. Es war schwarz und wurde vorn mit silbernen Druckknöpfen geschlossen, die jedoch nicht alle zugingen, weil die junge Nutte einen recht üppigen Busen hatte. Unterhalb des tief ausgeschnittenen Oberteils hing ihr schlaffer Bauch über einen schwarzen, schlampigen Halbunterrock. Das Taillenband war eingerissen, und der weiße Gummi stach von dem schwarzen Stoff und dem bleichen Fleischwulst des ausladenden Bauches ab. Mag sein, daß die junge Frau schwanger war, aber die tiefen, grauen Schatten unter ihren Augen deuteten auf gravierende innere Schäden hin, die eher vermuten ließen, daß sie gar nicht schwanger werden konnte.
»Wo ist Rooie?« fragte Ruth. Das dicke Mädchen rutschte von ihrem Barhocker herunter und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
»Bei ihrer Tochter«, sagte sie müde.
Als Ruth weiterging, hörte sie ein dumpfes Pochen an der Fensterscheibe. Es war nicht das vertraute Tappen eines Fingernagels, eines Schlüssels oder einer Münze, das Ruth hinter den Fenstern einiger anderer Prostituierter gehört hatte. Das dicke Mädchen schlug mit dem großen, rosafarbenen Dildo an die Scheibe, den Ruth am Vormittag auf dem Tischchen neben Rooies Bett auf dem klinisch weißen Tablett gesehen hatte. Sobald die junge Frau Ruth auf sich aufmerksam gemacht hatte, steckte sie die Spitze des Dildos in den Mund und zerrte wenig freundlich mit den Zähnen daran. Dann nickte sie Ruth gleichgültig zu und zuckte die Achseln, als reichte ihre restliche Kraft nur noch für das eingeschränkte Versprechen, daß sie wenigstens versuchen würde, Ruth so glücklich zu machen, wie Rooie es konnte.
Ruth schüttelte den Kopf, lächelte der jungen Prostituierten aber freundlich zu. Daraufhin klatschte das bemitleidenswerte Geschöpf den Dildo wiederholt auf ihre Handfläche, so, als schlüge sie den Takt zu einer Musik, die nur sie hören konnte.
In dieser Nacht hatte Ruth einen erschreckend erregenden Traum, der sich um den schönen jungen Holländer namens Wim drehte. Peinlich berührt wachte sie auf, fest davon überzeugt, daß der schlimme Freund in ihrem im Entstehen begriffenen Roman doch nicht rötlichblond sein sollte; sie bezweifelte sogar, daß er durch und durch »schlimm« sein sollte. Wenn die Demütigung, die die Schriftstellerin erlitt, sie dazu veranlaßte, ihr Leben zu ändern, mußte sie die Schlimme sein; man ändert sein Leben nicht, weil ein anderer sich übel verhalten hat.
Ruth mochte nicht ohne weiteres glauben, daß Frauen Opfer waren; oder vielmehr war sie überzeugt, daß Frauen ebenso häufig Opfer ihrer selbst wie Opfer von Männern waren. Wenn sie als Beweis dafür die Frauen nahm, die sie am besten kannte – Hannah und sich selbst –, traf dies mit Sicherheit zu. (Freilich kannte Ruth ihre Mutter nicht, vermutete aber, daß Marion wahrscheinlich wirklich ein Opfer war, eines der zahlreichen Opfer ihres Vaters.)
Außerdem hatte Ruth sich bereits an Scott Saunders gerächt; weshalb also sollte sie ihn oder sein rötlichblondes Ebenbild in einen Roman einbauen? In Nichts für Kinder hatte die verwitwete Romanautorin Jane Dash die richtige Entscheidung getroffen: Sie hatte nicht über ihre Gegenspielerin, Eleanor Holt, geschrieben. Ruth hatte dieses Thema bereits abgehakt! (»Als Romanautorin widerstrebte es Mrs. Dash, über lebende Personen zu schreiben; sie empfand es als Versagen der Phantasie, denn jeder Romanautor, der diese Bezeichnung verdient, muß imstande sein, Figuren zu erfinden, die interessanter sind als ihre lebenden Vorbilder. Eleanor Holt zu einer Romanfigur zu machen, und sei es nur, um sich über sie zu mokieren, wäre eine Form von Schmeichelei gewesen.«)
Ich sollte mich an das halten, was ich predige, ermahnte sich Ruth.
In Anbetracht der wenig verlockenden Reste im Frühstücksraum und der Tatsache, daß Ruths einziges Interview an diesem Tag bei einem Mittagessen stattfand, trank sie rasch eine halbe Tasse lauwarmen Kaffee und einen ebenso wenig reizvoll temperierten Orangensaft; dann machte sie sich auf den Weg in den Rotlichtbezirk. Um neun Uhr morgens war es ratsam, nicht mit vollem Magen durch das Viertel zu gehen.
Sie überquerte die Warmoesstraat in Sichtweite der Polizeiwache, ohne diese überhaupt wahrzunehmen. Als erstes fiel ihr ein junges, allem Anschein nach drogensüchtiges Strichmädchen auf, das an der Ecke Enge Kerksteeg hockte und auf die Straße urinierte. Sie hatte
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