Witwe für ein Jahr (German Edition)
vielleicht ein bißchen auszufragen. Sie hatte wirklich nicht vorgehabt, mit ihm zu flirten, zumindest nicht ernsthaft, und hatte auch längst beschlossen, nicht mit ihm zu schlafen. Sie wollte sich nur mit ihm allein treffen, vielleicht zu einer Tasse Kaffee am Vormittag, um herauszufinden, weshalb er sich für sie interessierte; um sich ihn als Bewunderer und vielleicht als Liebhaber vorzustellen; um mehr von den einzelnen Facetten mitzubekommen, aus denen sich der schöne junge Holländer zusammensetzte. Und nun war er nicht erschienen.
Vermutlich hat er mich satt bekommen, dachte Ruth. Sie hätte es ihm nachfühlen können; sie hatte sich selbst noch nie so satt gehabt.
Ruth wollte sich nicht von Maarten und Sylvia ins Hotel begleiten lassen. Sie hatte sie schon am Abend vorher daran gehindert, rechtzeitig ins Bett zu kommen; sie brauchten alle drei ihren Schlaf. Und so setzten die beiden sie in ein Taxi und nannten dem Fahrer die Adresse. Gegenüber dem Hotel, beim Taxistand am Kattengat, sah sie Wim unter einer Straßenlaterne stehen. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der seine Mutter in einer Menschenmenge verloren hat, die sich inzwischen zerstreut hatte.
Erbarmen! dachte Ruth, als sie die Straße überquerte, um ihn abzuholen.
Weder Mutter noch Sohn
Wenigstens schlief sie nicht mit ihm, jedenfalls nicht richtig. Sie verbrachten zwar die Nacht zusammen, im selben Bett, aber Ruth hatte keinen Sex mit ihm, jedenfalls nicht richtig. Ja, ein paar Küsse und Umarmungen gab es schon; sie erlaubte ihm auch, ihre Brüste zu berühren, bremste ihn aber, als er zu erregt wurde. Und sie schlief die ganze Nacht in Höschen und T-Shirt; sie war nicht eine Minute nackt. Es war nicht ihre Schuld, daß er sich ganz ausgezogen hatte. Sie war ins Bad gegangen, um sich die Zähne zu putzen, und als sie ins Schlafzimmer zurückkam, lag er bereits ausgezogen im Bett.
Sie redeten und redeten. Er hieß Wim Jongbloed; er hatte jedes Wort gelesen, das sie geschrieben hatte, wieder und wieder. Er wollte Schriftsteller werden, so wie sie, doch nach ihrem Vortrag an der Vrije Universiteit war er so am Boden zerstört gewesen, daß er nicht auf sie zugekommen war. Was er schrieb, kam einer autobiographischen Logorrhöe gleich. Er hatte sich noch nie im Leben eine Geschichte oder eine Figur »ausgedacht«. Er zeichnete lediglich seine erbärmlichen Sehnsüchte auf, seine armseligen, banalen Erlebnisse. Ihren Vortrag hatte er mit dem Vorsatz verlassen, sich umzubringen, war dann aber nach Hause gegangen und hatte alles bisher Geschriebene vernichtet. Er holte seine Tagebücher – etwas anderes hatte er noch nicht zustande gebracht – und warf sie in eine Gracht. Dann rief er sämtliche Luxushotels Amsterdams an, bis er herausfand, wo sie wohnte.
Sie saßen in der Hotelbar und unterhielten sich, bis offensichtlich war, daß die Bar schloß; dann nahm Ruth ihn mit in ihr Zimmer.
»Ich bin um kein Haar besser als ein Journalist«, sagte Wim völlig gebrochen.
Ruth zuckte zusammen, als sie sich zitiert hörte; der Satz stammte aus ihrem Vortrag. Wörtlich hatte sie gesagt: »Wenn Sie nicht in der Lage sind, etwas zu erfinden, sind Sie nicht besser als ein Journalist.«
»Ich weiß nicht, wie man eine Geschichte erfindet!« jammerte Wim Jongbloed.
Wahrscheinlich brachte er nicht einmal einen anständigen Satz zustande, um seine Seele zu retten, aber Ruth fühlte sich absolut für ihn verantwortlich. Außerdem war er ungeheuer hübsch. Er hatte dichtes, dunkelbraunes Haar und dunkelbraune Augen mit unglaublich langen Wimpern. Er hatte eine seidenweiche Haut, eine edle Nase, ein kräftiges Kinn und einen herzförmigen Mund. Und obwohl sein Körper für Ruths Geschmack zu schmächtig war, hatte er breite Schultern und einen breiten Brustkorb; es sah aus, als müßte er noch in seinen Körper hineinwachsen.
Sie begann ihm von ihrem im Entstehen begriffenen Roman zu erzählen; davon, daß er sich ständig veränderte und daß dieser Prozeß nötig war, wenn man eine Geschichte erfinden wollte. Zum Geschichtenerzählen brauchte man im Grunde nichts anderes als einen sehr ausgeprägten gesunden Menschenverstand. (Ruth fragte sich, wo sie das gelesen hatte; sie war sicher, daß sie es sich nicht selbst ausgedacht hatte.)
Ruth gestand Wim sogar, daß sie ihn sich als den jungen Mann in ihrer Geschichte »vorgestellt« habe. Das bedeute jedoch nicht, daß sie mit ihm schlafen werde; das wolle sie von vornherein klarstellen. Es genüge
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