Witwe für ein Jahr (German Edition)
wäre, Maarten und Sylvia hätten sie nicht hingeführt. Der Trompetterssteeg war nicht nur für eine Gasse zu schmal; er war selbst für einen Wohnungsflur zu schmal. Hier stand die Luft, und es tobte ein unablässiger Kampf der Gerüche: Urin und Parfum, eine so penetrante Mischung, daß man sich an verrottetes Fleisch erinnert fühlte. Dazu kam ein leichter, trockener Geruch nach Verbranntem, der von den Haarföns der Huren stammte und ausgesprochen fehl am Platz wirkte, weil die Gasse naß war, obwohl es an diesem Abend nicht regnete. Die Luftbewegung reichte nicht einmal aus, um die Pfützen auf dem fleckigen Pflaster zu trocknen.
Die Mauern, feucht und verschmutzt, hinterließen auf der Kleidung der Männer Spuren an Rücken, Brust und Schultern, weil sie sich an die Wand drücken mußten, um aneinander vorbeizukommen. Die Prostituierten in den Fenstern und den offenen Türen waren so nah, daß man sie riechen und berühren konnte, und es blieb einem gar nichts anderes übrig, als einer nach der anderen ins Gesicht zu schauen. Oder in die Gesichter der Männer, die sich hier umsahen – extrem unangenehme Gesichter, auf der Hut vor den Händen der Prostituierten, die vorschnellten und Kontakt aufnahmen, immer und immer wieder. Der Trompetterssteeg war ein Käufermarkt; für einen Schaufensterbummel war der Augenkontakt zu unmittelbar.
Ruth wurde klar, daß man in De Wallen keine Prostituierte zu bezahlen brauchte, um jemanden beim Sex zu beobachten – in ihrem Roman mußte der Anstoß dazu von dem jungen Mann und/oder von der Schriftstellerin kommen. Irgend etwas mußte in ihrer Beziehung ungewöhnlich sein – oder fehlen. Schließlich konnte man im Erotic Show Centre Videokabinen mieten. SIMPLY THE BEST wurde da angekündigt. In der Live-Porno-Show wurde REAL FUCKING LIFE versprochen. Und an einer anderen Ecke REAL FUCKING ONSTAGE . Man brauchte keine besonderen Anstrengungen zu unternehmen, um hier als Voyeur auf seine Kosten zu kommen.
Ein Roman ist immer komplizierter, als es am Anfang aussieht. Und eigentlich sollte es auch so sein.
Es tröstete Ruth, daß sich zumindest an den » SM Specials« im Schaufenster des einen Sexshops nichts verändert hatte. Die Vagina aus Gummi, die wie ein Omelett aussah, baumelte noch immer von der Decke, auch wenn der Hüfthalter, an dem sie hing, jetzt schwarz war und nicht mehr rot. Und offenbar hatte niemand den kuriosen Dildo gekauft, an dem mit einem Lederriemen eine Kuhglocke befestigt war. Auch Peitschen lagen nach wie vor im Fenster, und die Klistierkolben wurden in den gleichen (oder ähnlichen) Größen angeboten. Sogar die Gummifaust hatte die verstrichene Zeit unangetastet überstanden – so trotzig und unerwünscht wie eh und je, dachte Ruth … das heißt, sie hoffte es.
Es war halb eins, als Maarten und Sylvia Ruth in ihr Hotel zurückbrachten. Ruth hatte genau aufgepaßt, welchen Weg sie genommen hatten. In der Hotelhalle küßte sie beide zum Abschied – auf holländische Art, dreimal, aber rascher und distanzierter, als Rooie sie geküßt hatte. Dann begab sie sich in ihr Zimmer und zog sich um. Sie schlüpfte in eine ältere, ausgewaschene Bluejeans und ein marineblaues Sweatshirt, das ihr zu groß war; es schmeichelte ihrer Figur keineswegs, dafür verbarg es ihren Busen weitgehend. Dann zog sie die bequemsten Schuhe an, die sie mitgenommen hatte, schwarze Wildlederslipper.
Sie wartete in ihrem Zimmer eine Viertelstunde ab, ehe sie das Hotel wieder verließ. Jetzt war es Viertel vor eins, aber zu Fuß brauchte sie keine fünf Minuten bis zu der nächsten Straße, in der es Prostituierte gab. Ruth hatte nicht vor, Rooie um diese Zeit aufzusuchen, aber sie wollte sie gern in ihrem Fenster sitzen sehen. Vielleicht bekomme ich mit, wie sie einen Freier anlockt, dachte Ruth. Ihren eigentlichen Besuch wollte sie am nächsten oder übernächsten Tag machen.
Ruths bisherige Begegnungen mit Prostituierten hätten ihr eigentlich eine Lehre sein müssen: Ihre Fähigkeit, vorauszusehen, was sich in diesem Milieu als nächstes ereignen konnte, war eindeutig nicht so hoch entwickelt wie ihr Geschick als Romanautorin; man hätte sich gewünscht, sie hätte zumindest eine gewisse Vorsicht walten lassen und sich klargemacht, daß sie die Frauen auf dieser Seite des Lebens nicht einschätzen konnte – denn in dem Fenster in der Bergstraat, das eigentlich Rooies Fenster war, saß eine viel ordinärere, viel jüngere Frau. Ruth erkannte das rückenfreie
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