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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie auf der Seite lag und man nur eine Brust sah und nicht beide.
    Im grellen Licht sah man den Schweiß auf dem kahlen Kopf des Mörders schimmern. Seine Haut hatte eine ungute graue Färbung, die Ruth zuvor nicht bemerkt hatte; das Keuchen hatte nachgelassen.
    Er wirkte entspannter. Er betrachtete Rooies in Positur gebrachten Körper prüfend durch den Sucher seiner Kamera. Ruth erkannte die Kamera wieder: Es war eine altmodische, große Polaroidkamera, die gleiche, die ihr Vater verwendet hatte, um Fotos von seinen Modellen zu machen. Die damit aufgenommenen Schwarzweißfotos mußten mit einer übel riechenden Emulsion fixiert werden.
    Der Mörder verschwendete wenig Zeit auf das eine Foto, das er machte. Danach war ihm Rooies Pose völlig egal; er rollte sie rücksichtslos vom Bett, um mit dem Handtuch, auf dem sie gelegen hatte, die Scheinwerferlampe herauszuschrauben und wieder in seine Aktentasche zu packen. (Obwohl sie nur kurze Zeit gebrannt hatte, war sie offenbar heiß.) Dann wischte er mit dem Handtuch seine Fingerabdrücke von der kleinen Glühbirne, die er zuvor aus der Stehlampe geschraubt hatte; auch den Buntglasschirm wischte er sorgfältig ab.
    Während des Entwicklungsvorgangs schwenkte er das Foto mit einer Hand. Es hatte etwa die Größe eines normalen Briefumschlags. Er wartete höchstens zwanzig bis fünfundzwanzig Sekunden, ehe er das Deckblatt abzog. Dann ging er zu dem Hocker am Fenster und schob den Vorhang etwas auseinander, um die Qualität des Fotos bei Tageslicht zu prüfen. Sichtlich zufrieden kehrte er zu dem tiefen Sessel zurück und packte seine Kamera wieder in die große Aktentasche. Dann holte er die übel riechende Emulsion heraus, bestrich damit sorgfältig das Foto und schwenkte es hin und her, um es zu trocknen.
    Jetzt keuchte er nur noch leise und summte dabei eine nicht erkennbare Melodie – wie jemand, der sich ein Sandwich herrichtet und sich darauf freut, es in Ruhe zu verzehren. Noch immer das Foto schwenkend, das schon trocken war, ging er zur Tür, die auf die Straße führte, probierte kurz am Schloß herum und warf, nachdem er sie einen Spaltbreit geöffnet hatte, einen raschen Blick nach draußen. Mit der Hand im Mantelärmel wischte er Schloß und Türknauf ab, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
    Als er die Tür wieder zumachte, bemerkte er Ruth Coles Roman Nichts für Kinder auf dem Tisch, auf dem die Prostituierte ihre Schlüssel deponiert hatte. Er nahm das Buch in die Hand, drehte es um und betrachtete das Foto der Autorin. Dann schlug er das Buch in der Mitte auf und legte, ohne auch nur ein Wort zu lesen, das Foto hinein. Er steckte Ruths Roman in seine Aktentasche, doch als er sie aus dem Sessel hob, sprang der Verschluß auf. Da die Stehlampe nicht angeschaltet war, konnte Ruth nicht sehen, was alles auf den Teppich gefallen war, aber der Mörder ließ sich sofort auf alle viere nieder; während er die Sachen aufklaubte und wieder in seine Aktentasche steckte, steigerte sich das Keuchen so, daß es wieder von einem Pfeifen begleitet wurde, als er endlich aufstand und den Verschluß der Aktentasche fest zudrückte.
    Dann sah er sich ein letztes Mal im Zimmer um. Ruth wunderte sich, daß er keinen letzten Blick auf Rooie warf. Es war, als existierte die Prostituierte für ihn jetzt nur noch auf dem Foto. Dann verschwand der graugesichtige Maulwurf fast so schnell, wie er Rooie umgebracht hatte. Er öffnete die Tür zur Straße, ohne sich zu vergewissern, ob draußen auf der Bergstraat jemand vorbeiging oder ob irgendwo eine Prostituierte in der offenen Tür stand. Bevor er die Tür schloß, verbeugte er sich, so, als stünde Rooie vor ihm im Zimmer. Wieder ließ er seine Hand im Mantelärmel verschwinden, bevor er die Tür berührte.
    Ruths rechter Fuß war eingeschlafen, aber sie wartete noch ein, zwei Minuten im Schrank, nur für den Fall, daß der Mörder zurückkam. Als sie hinkend hinter dem Vorhang hervortrat, stolperte sie über die Schuhe; außerdem ließ sie ihre Tasche fallen, deren Reißverschluß sie, wie üblich, nicht zugemacht hatte, so daß sie den dunklen, schlechtbeleuchteten Teppich blind nach den Utensilien abtasten mußte, die möglicherweise herausgefallen waren. Als sie in ihre Tasche griff, konnte sie darin alles ertasten, was wichtig für sie war (oder ihren Namen trug). Auf dem Teppich stieß ihre Hand auf eine runde Hülse, die zu dick war, als daß es sich um ihren Lip gloss hätte handeln können, aber sie steckte sie

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