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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gerichtete Rede, die er jedoch nie gehalten hatte. Sie betraf das Problem der minderjährigen Prostituierten. Widerwillig hatte Harry sich dem Standpunkt angeschlossen, den die Organisation vertrat, nämlich daß das Alter für Prostitution vom Gesetzgeber von achtzehn auf sechzehn herabgesetzt werden sollte.
    »Die Vorstellung, daß Minderjährige als Prostituierte arbeiten, gefällt niemandem«, begann Harrys Rede, »aber noch weniger behagt mir die Vorstellung, daß Minderjährige in einer gefährlichen Umgebung arbeiten. Minderjährige werden so oder so Prostituierte. Die meisten Bordellbesitzer kratzt es nicht, wenn ihre Mädchen erst sechzehn sind. Entscheidend ist, daß diese Sechzehnjährigen dieselben sozialen Dienste und Gesundheitseinrichtungen in Anspruch nehmen können wie ältere Prostituierte, ohne befürchten zu müssen, daß sie der Polizei übergeben werden.«
    Nicht Feigheit hatte Harry daran gehindert, seine Rede zu halten; er hatte der »offiziellen« Polizeimeinung schon vorher widersprochen. Vielmehr war es ihm grundsätzlich zuwider, sich vorzustellen, daß man Sechzehnjährigen erlaubte, in die Prostitution zu gehen, nur weil man sie nicht daran hindern konnte. Hätte man ihm – ausgehend von der Prämisse, daß man die Welt so akzeptieren muß, wie sie ist – die Frage gestellt, was man sinnvollerweise tun kann, um diese Welt ein kleines bißchen weniger gefährlich zu machen, hätte selbst Harry Hoekstra, der die Gesellschaft nun wirklich realistisch betrachtete, zugegeben, daß bestimmte Themen einfach deprimierend waren.
    Er hatte seine Rede nicht gehalten, weil sie, auf lange Sicht, für die minderjährigen Prostituierten nicht von praktischem Nutzen gewesen wäre – ebensowenig wie die Donnerstagstreffen für die meisten angehenden Prostituierten von Nutzen waren, weil sie gar nicht daran teilnahmen; sehr wahrscheinlich wußten sie nicht einmal, daß es diese Treffen gab, und wenn, wäre es ihnen egal gewesen.
    Aber vielleicht hatte der nächste Polizist, der an seinem Schreibtisch saß, Verwendung für die Rede, dachte Harry, und deshalb ließ er sie in der Schublade liegen.
    Als er die mittlere Schublade aufmachte und feststellte, daß sie leer war, erschrak er zunächst. Bestürzt darüber, daß man auf einer Polizeiwache bestohlen wird, starrte er hinein; dann fiel ihm ein, daß die Schublade immer leer gewesen war, soweit er sich erinnern konnte. Sie war ein Beweis dafür, wie wenig Sergeant Hoekstra seinen Schreibtisch benutzt hatte! In Wirklichkeit beschränkte sich das »Ausräumen« ausschließlich auf den unerledigten Vorgang, den Harry seit fünf Jahren getreulich in der untersten Schublade aufbewahrte. Seiner Ansicht nach war das die einzige polizeiliche Angelegenheit, die zwischen ihm und seiner Pensionierung stand.
    Da der Griff der untersten Schublade abgebrochen war und Harry als bevorzugtes Werkzeug zum Entfernen von Hundescheiße an den Schuhsohlen diente, mußte er sie jetzt mit seinem Taschenmesser aufstemmen. Die Akte über die Zeugin des Mordes an der roten Dolores war jämmerlich dünn, was darüber hinwegtäuschte, wie oft und wie genau Sergeant Hoekstra sie gelesen hatte.
    Harry wußte eine kompliziert angelegte Handlung zu schätzen, hatte aber eine eher spießige Vorliebe für chronologische Geschichten. Den Mörder zu finden, bevor man die Zeugin fand, hieß das Pferd am Schwanz aufzäumen. In einer Geschichte, in der alles seine Ordnung hatte, fand man zuerst die Zeugen.
    Ruth Cole hatte es nicht nur mit einem Polizisten zu tun, der nach ihr suchte. Sie hatte einen altmodischen Leser auf den Fersen.
    Die Tochter der Prostituierten

    Rooie hatte im selben Jahr als Fensterprostituierte in De Wallen angefangen, in dem Harry als Kontaktbeamter in den Rotlichtbezirk kam. Sie war fünf Jahre jünger als er, wenngleich er vermutete, daß sie ihn in bezug auf ihr Alter angelogen hatte. In ihrem ersten Schaufensterzimmer, am Oudekennissteeg – jener kleinen Gasse, in der sich Vratna später erhängte –, hatte Dolores de Ruiter jünger als achtzehn ausgesehen. Aber sie war tatsächlich so alt. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Harry Hoekstra war damals dreiundzwanzig.
    Seiner Meinung nach sagte die rote Dolores für gewöhnlich nicht die Wahrheit oder erzählte jedenfalls nur Halbwahrheiten.
    An Tagen, an denen viel Betrieb herrschte, hatte Rooie in ihrem Fensterzimmer anfangs zehn oder zwölf Stunden durchgearbeitet, was bedeutete, daß sie fünfzehn Freier

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