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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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empfohlen hatte. Mit siebenundfünfzig war Sergeant Hoekstra etwas zu alt für die meisten Frauen, die dort hingingen. (Junge Frauen Mitte Zwanzig, die ihm erklärten, »für einen Kerl in seinem Alter« sei er phantastisch in Form, waren für ihn nicht das Nonplusultra.) Aber in letzter Zeit traf er sich mit einer Frau, die hier arbeitete, einer Aerobictrainerin. Harry konnte Aerobic nicht ausstehen; er war ein überzeugter Gewichtheber. Er legte an einem Tag zu Fuß mehr Kilometer zurück als die meisten Leute in einer Woche oder in einem Monat. Und er fuhr überallhin mit dem Fahrrad. Wozu brauchte er da noch Aerobic?
    Die Trainerin war eine attraktive Frau Ende Dreißig, die jedoch zu missionarischem Eifer neigte; und als sie es nicht schaffte, Harry zu ihrem bevorzugten Fitneßsport zu bekehren, war sie gekränkt. Harry konnte sich nicht erinnern, wann zum letztenmal jemand derart an seinen Lesegewohnheiten Anstoß genommen hatte. Die Aerobictrainerin las selbst keine Bücher, und wie alle anderen Frauen wollte sie Harry nicht glauben, daß er nie Sex mit einer Prostituierten gehabt hatte. Er sei doch bestimmt in Versuchung geraten, meinte sie.
    Er war ständig »in Versuchung geraten«, von Jahr zu Jahr allerdings weniger. In seinen knapp vierzig Jahren als Polizist war er gelegentlich auch »in Versuchung geraten«, den einen oder anderen Menschen umzubringen. Aber Sergeant Hoekstra hatte weder jemanden umgebracht noch Sex mit einer Prostituierten gehabt.
    Es bestand kein Zweifel, daß Harrys Kontakt zu den Frauen in den Schaufenstern – und in zunehmendem Maß auch auf den Straßen – all seinen Freundinnen Unbehagen bereitete. Harry war eindeutig ein Mann der Straße, und vielleicht trug das entscheidend zu seiner Vorliebe für Bücher und Kaminfeuer bei; mit Sicherheit trug die Tatsache, daß er fast vierzig Jahre lang ein Mann der Straße gewesen war, zu seiner Sehnsucht bei, es einmal mit dem Landleben zu versuchen. Harry Hoekstra hatte die Nase voll von Städten – egal, von welcher Stadt.
    Nur eine von Harrys Freundinnen hatte so gern gelesen wie er, aber sie las die falschen Bücher; von den Frauen, mit denen Harry geschlafen hatte, stand sie den Prostituierten noch am nächsten. Sie war Anwältin und arbeitete ehrenamtlich für eine Prostituiertenorganisation, eine liberale Feministin, die Harry erklärte, sie würde sich mit den Prostituierten »identifizieren«.
    Die Organisation, die sich für die Rechte der Prostituierten einsetzte, nannte sich De Rode Draad (Der Rote Faden); als Harry die Anwältin kennenlernte, lag der Rote Faden mit der Polizei etwas im Clinch, obwohl es beiden Seiten um die Sicherheit der Prostituierten ging. Harry war von jeher der Meinung gewesen, daß die Zusammenarbeit erfolgreicher hätte verlaufen können. Doch seiner Ansicht nach packten die Mitglieder der Organisation die Sache grundsätzlich falsch an: Abgesehen von den militanten Prostituierten und Exprostituierten gab es einige Frauen (wie seine Anwaltsfreundin), die er als praxisferne Feministinnen empfand, denen es in erster Linie darum ging, aus der Organisation eine Emanzipationsbewegung für Prostituierte zu machen. Harry war von Anfang an überzeugt gewesen, daß sich der Rote Faden weniger um Manifeste kümmern sollte als darum, die Prostituierten vor den Gefahren ihres Gewerbes zu schützen. Trotzdem waren ihm die Prostituierten und die Feministinnen immer noch lieber als die anderen Mitglieder – die Gewerkschaftstypen und »Subventionsjäger«, wie Harry sie nannte.
    Die Anwältin hieß Natasja Frederiks. Zwei Drittel der Frauen, die für den Roten Faden arbeiteten, waren Prostituierte oder ehemalige Prostituierte; für Nichtprostituierte (wie Natasja) galt bei den Zusammenkünften absolutes Redeverbot. Der Rote Faden zahlte nur zweieinhalb Gehälter an vier Leute; alle anderen Personen, die damit zu tun hatten, arbeiteten ehrenamtlich. Auch Harry war ehrenamtlich dort tätig gewesen.
    In den späten achtziger Jahren hatte die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und dem Roten Faden besser geklappt als jetzt. Auf die Dauer war es der Organisation nicht gelungen, die ausländischen Prostituierten anzusprechen – von den »illegalen« ganz zu schweigen –, und holländische Prostituierte gab es kaum noch, weder auf den Straßen noch in den Fenstern.
    Natasja Frederiks arbeitete nicht mehr ehrenamtlich für den Roten Faden; auch sie hatte ihre Illusionen verloren. (Inzwischen bezeichnete sie sich als

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