Witwe für ein Jahr (German Edition)
»Exidealistin«.) Sie und Harry hatten sich bei einem der Treffen kennengelernt, die regelmäßig jeden Donnerstagnachmittag für die Einsteigerinnen in diesem Gewerbe veranstaltet wurden. Harry hielt diese Treffen für eine gute Sache.
Er saß immer im hinteren Teil des Raums und schwieg, es sei denn, er wurde direkt gefragt; den neuen Prostituierten wurde er als »einer der sympathischeren Vertreter der Polizei« vorgestellt, und sie wurden aufgefordert, sich im Anschluß an den offiziellen Teil der Veranstaltung mit ihm zu unterhalten. Zum »offiziellen Teil« gehörte es häufig, daß eine ältere Prostituierte den Anfängerinnen darlegte, wovor sie sich in acht nehmen sollten. Einer dieser alten Hasen war Dolores de Ruiter, die »rote« Dolores, wie Harry und alle anderen im Rotlichtbezirk sie nannten. Sie arbeitete schon viel länger als Nutte in De Wallen und später in der Bergstraat als Natasja Frederiks als Anwältin.
Rooie schärfte den neuen Mädchen jedesmal ein, sich zu vergewissern, daß der Freier einen Ständer hatte. Das meinte sie ganz ernst. »Sobald der Kerl bei euch im Zimmer ist, ich meine, in dem Augenblick, in dem er den Fuß über die Schwelle setzt, sollte er ihm stehen.« Wenn das nicht der Fall sei, warnte Rooie die Anfängerinnen, war er vielleicht gar nicht auf Sex aus. »Und macht niemals die Augen zu«, ermahnte Rooie die Mädchen immer wieder. »Manche Kerle wollen, daß ihr die Augen zumacht. Tut es ja nicht!«
Es hatte keinen unangenehmen oder gar enttäuschenden Aspekt in Harrys Verhältnis mit Natasja Frederiks gegeben, aber er erinnerte sich sehr lebhaft daran, daß sie sich ständig über Bücher gestritten hatten. Natasja war zum Diskutieren geboren, während Harry nicht gern diskutierte; trotzdem genoß er es, eine Freundin zu haben, die so viel las wie er, wenn auch seiner Ansicht nach die falschen Bücher. Natasja las Sachbücher von Autoren, die die Welt verändern wollten; sie las Traktate. Es waren zumeist linksgerichtete Bücher voller Wunschvorstellungen, und Harry glaubte nun mal nicht, daß man die Welt (oder die menschliche Natur) verändern konnte. Sein Job war es, die Welt, so wie sie war, zu verstehen und zu akzeptieren; und er bildete sich gern ein, daß er vielleicht dazu beitrug, diese Welt ein kleines bißchen ungefährlicher zu machen.
Er las Romane, weil er darin die besten Beschreibungen der menschlichen Natur fand. Die Autoren, die Harry bevorzugte, gingen nie von der Voraussetzung aus, daß sich am Verhalten der Menschen, und sei es noch so übel, etwas ändern ließ. Mag sein, daß sie diesen oder jenen Charakterzug moralisch mißbilligten, aber sie waren keine Weltverbesserer. Sie waren Geschichtenerzähler, die überdurchschnittliche Geschichten zu erzählen hatten, und wenn sie gut waren, erzählten sie Geschichten von glaubhaften Figuren. Am liebsten mochte Harry Romane mit kompliziert ineinander verwobenen Geschichten, die von lebensechten Menschen handelten.
Kriminalromane und Thriller mochte er nicht. (Entweder löste er den Fall zu schnell, oder er fand die Figuren unglaubwürdig.) Er wäre nie in eine Buchhandlung gegangen, um sich Klassiker oder literarische Neuerscheinungen zeigen zu lassen, doch im Grunde genommen las er mehr »Klassiker« und mehr »literarische« Romane als andere Bücher, auch wenn all diesen Romanen eine relativ konventionelle Erzählstruktur zugrunde lag.
Harry hatte nichts dagegen, wenn ein Buch witzig geschrieben war, aber wenn der Autor ausschließlich humorvoll (oder bissig) schrieb, war Harry enttäuscht. Er mochte gesellschaftlichen Realismus, allerdings nicht, wenn es dem Autor völlig an Phantasie fehlte und seine Geschichte zu wenig Rätsel aufgab und den Leser zu wenig fesselte. (Ein Roman über eine geschiedene Frau, die ein Wochenende in einem Hotel am Meer verbringt, wo sie einen Mann sieht, mit dem sie sich eine Affäre ausmalt – ohne daß es dazu kommt; sie fährt einfach wieder nach Hause –, wurde seinem Anspruch an einen Roman nicht gerecht.)
Natasja Frederiks bezeichnete Harrys Romangeschmack als »eskapistisch«, aber Harry vertrat hartnäckig den Standpunkt, Natasja sei diejenige, die mit ihren idiotischen Sachbüchern voll müßiger Wunschvorstellungen, wie man die Welt verändern müsse, aus ebendieser Welt floh.
Unter den zeitgenössischen Romanautoren mochte Sergeant Hoekstra Ruth Cole am liebsten. Über sie hatte er mit Natasja mehr gestritten als über irgendeinen anderen Autor.
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