Witwe für ein Jahr (German Edition)
Die Anwältin, die ehrenamtlich für den Roten Faden tätig gewesen war, weil sie sich mit den Prostituierten »identifizierte«, behauptete, Ruth Coles Geschichten seien »zu bizarr«; die Anwältin, die für die Rechte der Prostituierten kämpfte, ohne bei ihren Zusammenkünften den Mund aufmachen zu dürfen, fand den Plot in Ruth Coles Romanen jedesmal »zu unwahrscheinlich«. Im Grunde genommen mochte Natasja überhaupt keine Plots. Schließlich gebe es in der wirklichen Welt (die sie um jeden Preis verändern wollte) auch keinen erkennbaren Plot, behauptete Natasja.
Natasja, die eines Tages (wie Harry) die ehrenamtliche Tätigkeit für den Roten Faden aufgab, weil die Organisation weniger als ein Zwanzigstel der in Amsterdam arbeitenden Prostituierten vertrat, fand Ruth Cole für ihren Geschmack »zu unrealistisch«. (Zu der Zeit, als sowohl Harry als auch Natasja ihr Engagement beim Roten Faden beendeten, kamen weniger als fünf Prozent der angehenden Prostituierten, die in De Wallen arbeiteten, zu den eigens für sie anberaumten Donnerstagstreffen.)
»Ruth Cole ist realistischer als du«, erklärte Harry Natasja.
Sie hatten sich getrennt, weil Natasja der Meinung war, Harry fehle es an Ehrgeiz. Er wolle überhaupt kein Kriminalbeamter werden, meinte sie, er gebe sich damit zufrieden, ein einfacher Kontaktbeamter zu bleiben. Es stimmte, daß Harry auf der Straße sein mußte. Wenn er nicht draußen, in seinem eigentlichen Arbeitszimmer, seine Runden drehte, fühlte er sich überhaupt nicht wie ein Polizist.
Im selben Stockwerk, in dem sich Harrys offizielles Büro befand, hatten auch die Kriminalbeamten ihr Zimmer; es stand voller Computer, an denen sie viel zuviel Zeit verbrachten. Harrys bester Freund unter den Kriminalern war Nico Jansen. Nico zog Harry gern damit auf, daß der letzte Prostituiertenmord in Amsterdam, nämlich der Mord an Dolores de Ruiter in dem Fensterzimmer in der Bergstraat, einzig und allein von seinem Computer aufgeklärt worden sei, aber Harry wußte es besser.
Er wußte, daß in Wirklichkeit die geheimnisvolle Zeugin den Mord an der Prostituierten aufgeklärt hatte; Harrys Analyse des Augenzeugenberichts, der immerhin an ihn adressiert gewesen war, hatte Nico Jansen den entscheidenden Hinweis geliefert, womit er seinen über den grünen Klee gelobten Computer füttern mußte.
Aber ihre Meinungsverschiedenheit darüber war freundschaftlicher Natur. Der Fall war gelöst – das sei die Hauptsache, meinte Nico. Doch Harry interessierte sich noch immer für die Zeugin, und daß sie ihm entwischt war, ärgerte ihn – um so mehr, als er absolut sicher war, sie selbst gesehen zu haben. Er hatte sie tatsächlich gesehen, und trotzdem war sie ihm entwischt!
Die Mittelschublade von Sergeant Hoekstras Schreibtisch heiterte ihn auf; darin lag nichts, was er wegzuwerfen brauchte. Sie enthielt ein Dutzend alter Bleistifte und ein paar Schlüssel, die er nicht zuordnen konnte, aber vielleicht zog sein Nachfolger eine gewisse Befriedigung daraus, zu spekulieren, wozu die Schlüssel gehören mochten; außerdem enthielt sie einen kombinierten Flaschenöffner und Korkenzieher – selbst auf einer Polizeiwache konnte man nie genug von diesen Dingern haben – und einen Teelöffel (nicht ganz sauber, aber man konnte ihn ja jederzeit abspülen). Man kann nie wissen, wann einem schlecht wird und man einen Teelöffel braucht, um seine Medizin einzunehmen, dachte Harry.
Schon wollte er die Schublade schließen und ihren Inhalt unangetastet lassen, als ihm ein Gegenstand von durchaus bemerkenswerter Nützlichkeit ins Auge fiel. Es war der abgebrochene Griff der untersten Schreibtischschublade, und niemand außer Harry wußte, was für ein wahrhaft handliches Gerät das war. Er paßte haargenau in die Ritzen der Profile von Harrys Laufschuhen; er benutzte ihn, um die Hundescheiße aus den Sohlen zu kratzen, wenn er in einen Haufen getreten war. Harrys Nachfolger freilich würde den Wert des abgebrochenen Griffs nicht unbedingt erkennen.
Harry nahm einen Bleistift und schrieb eine Notiz, die er in die Mitte der Schublade legte, bevor er sie schloß. REPARIEREN SIE DIE UNTERSTE SCHUBLADE NICHT, SONDERN HEBEN SIE DEN ABGEBROCHENEN GRIFF AUF. EIGNET SICH AUSGEZEICHNET, UM HUNDESCHEISSE VON SCHUHSOHLEN ZU ENTFERNEN. HARRY HOEKSTRA
Derart aufgeheitert nahm Harry die drei seitlichen Schreibtischschubladen in Angriff, angefangen bei der obersten. Sie enthielt eine an die Mitglieder des Roten Fadens
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