Witwe für ein Jahr (German Edition)
auch den Körper der Schriftsteller gesehen. Bei Ruth sah man nicht einmal die Brust.
An seinen freien Tagen setzte sich Harry nach seinem Besuch bei Athenaeum oft in ein Café auf dem Spui, aber Ruth Cole wollte er lieber zu Hause lesen.
Was gab es Schöneres? Einen neuen Ruth-Cole-Roman und zwei freie Tage!
Als er zu dem Teil der Geschichte mit der älteren Frau und dem jüngeren Mann kam, war er enttäuscht. Harry war knapp achtundfünfzig; er wollte nichts über eine Frau mit Mitte Dreißig lesen, die sich für einen jüngeren Mann interessierte. Trotzdem fesselte ihn der Schauplatz Amsterdam. Und als er an die Stelle kam, wo der junge Mann die Frau dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen … Man kann sich Sergeant Hoekstras Verblüffung vorstellen. »Es war ein Zimmer, ganz in Rot gehalten, das durch den Buntglaslampenschirm in noch kräftigeres Rot getaucht wurde«, hatte Ruth Cole geschrieben. Harry kannte das Zimmer, das sie vor Augen gehabt hatte.
»Ich war so nervös, daß ich zu nichts zu gebrauchen war«, hieß es weiter. »Ich konnte der Prostituierten nicht einmal helfen, die Schuhe umzudrehen. Als ich einen Schuh aufhob, ließ ich ihn prompt fallen. Die Prostituierte schimpfte, weil ich mich so ungeschickt anstellte. Sie sagte, ich solle mich hinter dem Vorhang verstecken; dann stellte sie die restlichen Schuhe rechts und links neben die meinen in einer Reihe auf. Vermutlich haben sich meine Schuhe etwas bewegt, weil ich zitterte.«
Harry konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie zitterte. Er merkte die Stelle ein, an der er zu lesen aufgehört hatte; morgen wollte er das Buch zu Ende lesen. Es war schon spätnachts, aber das war egal. Schließlich hatte er den ganzen nächsten Tag frei.
Wenig später bestieg Sergeant Hoekstra sein Fahrrad und fuhr in Rekordzeit aus dem Westteil der Stadt in den Rotlichtbezirk. Zuvor hatte er nur noch kurz zur Schere gegriffen und Ruth Coles Foto aus dem Schutzumschlag ausgeschnitten; außer ihm brauchte niemand zu wissen, wer seine Zeugin war.
Als erstes traf er auf die beiden fetten Nutten aus Ghana. Als er ihnen das Foto zeigte, mußte er sie erst wieder an die geheimnisvolle Frau aus den Vereinigten Staaten erinnern, die damals am Stoofsteeg stehengeblieben war und sich erkundigt hatte, woher sie kämen.
»Das ist lange her, Harry«, sagte die eine.
»Fünf Jahre«, sagte er. »Ist sie das?«
Die beiden betrachteten das Foto. »Man kann ihren Busen nicht sehen«, sagte die andere.
»Ja, sie hatte einen schönen Busen«, sagte die erste.
»Ist sie das?« fragte Harry noch einmal.
»Es ist fünf Jahre her, Harry!« meinte die andere.
»Ja, es ist zu lange her«, sagte die erste.
Als nächstes suchte Harry die junge, untersetzte Thailänderin am Barndesteeg auf. Die ältere, die Sadistin, schlief gerade, aber Harry vertraute ohnehin mehr auf das Erinnerungsvermögen der jüngeren.
»Ist sie das?« fragte er wieder.
»Könnte schon sein«, sagte die Thailänderin langsam. »Ich erinnere mich besser an den Jungen.«
Auf dem Gordijnensteeg trennten zwei jüngere Polizisten vor dem Fenster eines Transvestiten aus Ecuador gerade ein paar Raufbolde. Im Umfeld der ecuadorianischen Transvestiten gab es immer eine Menge Raufereien. Binnen zwölf Monaten würden sie alle ausgewiesen werden. (Vor ein paar Jahren waren sie aus Frankreich ausgewiesen worden.)
Die jungen Polizisten waren erstaunt, Sergeant Hoekstra hier zu sehen; sie wußten, daß er an diesem Abend freihatte. Aber Harry erklärte ihnen, er habe noch eine Kleinigkeit bei dem Mann mit den steinharten, baseballgroßen Brüsten zu erledigen. Der Transvestit seufzte tief, als er das Foto von Ruth Cole sah.
»Jammerschade, daß man ihren Busen nicht sieht, der war toll«, erklärte er Harry.
»Dann ist sie es also. Bist du sicher?« fragte Harry.
»Sie sieht älter aus«, meinte der Transvestit enttäuscht.
Sie ist auch älter, dachte Harry. Außerdem hat sie ein Kind bekommen, und ihr Mann ist gestorben. Es gab viele Gründe, weshalb Ruth Cole älter aussah.
Die jamaikanische Prostituierte, die Ruth am Arm aus dem Slapersteeg geführt hatte, konnte Harry nicht finden; von ihr hatte er erfahren, daß seine Zeugin dafür, daß sie so klein war, einen recht kräftigen rechten Arm hatte. Ob sie Sport treibt? überlegte Harry.
Die jamaikanische Prostituierte verschwand hin und wieder für eine ganze Woche oder länger von der Bildfläche.
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