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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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abgewandt, und immer trug sie einen Hut. Diesen Hut fand Harry beschissen. Ein Künstlername war eine Sache, aber sie war doch wohl keine Verbrecherin?
    Und da Harry Alice Somersets Gesicht nicht richtig sehen konnte, mußte er an seine verschwundene Zeugin denken. Auch ihr Gesicht hatte er nicht richtig gesehen. Freilich war ihm ihr Busen aufgefallen und daß ihr ganzer Körper Wachheit ausdrückte; außerdem hatte es ihn beeindruckt, daß sie sich offenbar alles sehr genau ansah. Das war auch einer der Gründe gewesen, weshalb er sie sich genau angesehen hatte. Harry mußte sich eingestehen, daß er sie nicht nur finden wollte, weil sie die Zeugin war. Wer immer diese Frau war, er wollte sie kennenlernen.
    In diesem April 1991, als die Amsterdamer Zeitungen die Geschichte von der Ergreifung des Prostituiertenmörders brachten, sorgte die Tatsache, daß er todkrank war, für eine gewisse Enttäuschung. Urs Messerli würde das Universitätsspital nicht mehr verlassen; er starb noch im selben Monat. Ein Serienmörder, der nicht weniger als acht Prostituierte umgebracht hatte, hätte für mehr sensationellen Wirbel sorgen müssen, aber die Geschichte machte nicht einmal eine Woche lang Schlagzeilen; Ende Mai war sie ganz aus der Berichterstattung verschwunden.
    Maarten Schouten, Ruth Coles holländischer Verleger, befand sich gerade auf der Kinderbuchmesse in Bologna, als die Nachricht durch die Presse ging. (In Italien hörte man nichts davon, weil unter den ermordeten Prostituierten keine Italienerin war.) Und von Bologna aus flog Maarten jedes Jahr nach New York; jetzt, wo ihre Söhne erwachsen waren, begleitete Sylvia ihn. Und da Maarten und Sylvia nicht mitbekamen, daß Rooies Mörder gefunden worden war, erfuhr auch Ruth nichts davon. Sie dachte weiterhin, der Maulwurfmann sei davongekommen – und treibe da draußen noch immer sein Unwesen.
    Viereinhalb Jahre waren vergangen, als Harry Hoekstra, der auf die Achtundfünfzig und seine Pensionierung zuging, im Herbst 1995 im Schaufenster der Buchhandlung Athenaeum am Spui den neuen Ruth-Cole-Roman sah und sofort kaufte.
    »War aber auch Zeit, daß sie einen neuen Roman geschrieben hat«, sagte er zu der Verkäuferin.
    Alle Verkäufer in der Buchhandlung kannten Sergeant Hoekstra. Sie waren mit seiner Vorliebe für Ruth-Cole-Romane fast ebenso vertraut wie mit dem Gerücht, daß er hier beim Schmökern mehr spätere Freundinnen kennengelernt hatte als sonstwo. Die Buchhändler von Athenaeum zogen ihn gern damit auf. Sie zweifelten zwar nicht an seiner Vorliebe für Reiseliteratur und Romane, genossen es aber auch, ihm unter die Nase zu reiben, daß er vermutlich nicht nur zum Schmökern in die Buchhandlung kam.
    Der Roman My Last Bad Boyfriend , den Harry in der englischen Originalausgabe kaufte, hatte auf holländisch den gleichen Titel, aber er klang grauenvoll: Mijn laatste slechte vriend . Die junge Verkäuferin, die Harry bediente und sich ausgesprochen gut auskannte, erläuterte die möglichen Gründe, weshalb Ruth Cole fünf Jahre gebraucht hatte, um ein nicht übermäßig dickes Buch zu schreiben. »Es ist ihr erster Ich-Roman«, erklärte sie. »Und soviel ich weiß, hat sie vor ein paar Jahren ein Kind bekommen.«
    »Ich wußte gar nicht, daß sie verheiratet ist«, sagte Harry und sah sich das Foto auf dem Schutzumschlag genauer an. Er fand, daß Ruth Cole nicht aussah wie eine verheiratete Frau.
    »Und dann ist vor etwa einem Jahr ihr Mann gestorben«, fuhr die Buchhändlerin fort.
    Also war Ruth Cole vermutlich Witwe. Wieder betrachtete Sergeant Hoekstra das Foto. Ja, sie sah eher wie eine Witwe aus als wie eine verheiratete Frau. Ihr eines Auge wirkte irgendwie traurig, aber vielleicht hatte sie auch einen Fleck im Auge. Sie blickte argwöhnisch in die Kamera, als wäre Kummer ein fester Bestandteil ihres Wesens, mehr noch als Trauer.
    Da handelte ihr letzter Roman von einer Witwe – und nun war sie selbst eine! dachte Sergeant Hoekstra.
    Das Problem bei den Autorenfotos war, daß sie immer so gestellt wirkten, sinnierte Harry. Autoren schienen nie zu wissen, was sie mit ihren Händen anfangen sollten. Häufig hatten sie sie gefaltet oder in irgendwelche Taschen gesteckt, oder sie verschränkten die Arme; einige hatten die Hände am Kinn, andere im Haar. Sie sollten sie einfach seitlich hängen- oder im Schoß liegen lassen, fand Harry.
    Das andere Problem bei den Autorenfotos war, daß sie meist nur aus Kopf und Schultern bestanden. Harry hätte gern

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