Witwe für ein Jahr (German Edition)
gestempelt, und er bekam ihn zurück. Er bemerkte ein Schild, auf dem stand, die automatische Tür sei außer Betrieb, aber sie ging trotzdem auf und ließ ihn in die Neue Welt ein, in der Ruth ihn erwartete. Kaum sah er sie, waren seine Zweifel wie weggewischt, und im Auto sagte sie zu ihm: »Ich hatte leise Zweifel, bis ich dich gesehen habe.«
Sie trug eine maßgeschneiderte olivgrüne Bluse; sie lag eng an, ähnlich wie ein langärmliges Polohemd, war am Hals jedoch weiter offen, so daß Harry das lothringische Kreuz sah, das er Ruth geschenkt hatte; die beiden Querbalken blitzten in der strahlenden Herbstsonne.
Sie fuhren fast drei Stunden nach Westen, durch weite Teile von Massachusetts, ehe sie sich nach Norden wandten und nach Vermont kamen. Es war Mitte Oktober, und in Massachusetts hatte die Laubfärbung ihren Höhepunkt erreicht, doch weiter im Norden waren die Farben schon gedämpfter. Harry kam es vor, als spiegelten die niedrigen, bewaldeten Berge die Melancholie des Jahreszeitenwechsels wider; die verblassenden Farben kündigten die herannahende Zeit der kahlen, mausbraunen Bäume an; bald würden die Nadelbäume die einzigen Farbtupfer vor dem mausgrauen Himmel bilden. Und in sechs Wochen oder eher schon würde der Herbst sein Gesicht wieder verändern; bald würde der Schnee kommen. Und dann gab es Tage, an denen verschiedene Grauschattierungen die einzigen Farben im alles beherrschenden Weiß waren, das hin und wieder durch einen violett angehauchten, schiefergrauen oder blauen Himmel belebt wurde.
»Ich kann es kaum erwarten, den Winter hier zu erleben«, sagte Harry zu Ruth.
»Den wirst du bald genug erleben«, entgegnete sie. »Der Winter hier kommt einem vor, als würde er ewig dauern.«
»Ich werde dich nie verlassen«, sagte er.
»Stirb mir nur nicht weg, Harry«, sagte Ruth.
Da Hannah Grant extrem ungern Auto fuhr, hatte sie sich auf mehr als eine kompromittierende Beziehung eingelassen; ebensosehr haßte sie es, ihre Wochenenden allein zu verbringen, was zur Folge hatte, daß sie Manhattan am Ende der Woche oft in Begleitung eines schlimmen, aber autofahrenden Freundes verließ, um Ruth in Vermont zu besuchen.
Im Augenblick befand sich Hannah »zwischen zwei Freunden«, wie Ruth es nannte, ein Zustand, den sie selten lange ertrug, und deshalb erkor sie Eddie O’Hare zu ihrem Fahrer fürs Wochenende, obwohl er erst nach Manhattan hineinfahren mußte, um sie abzuholen. Hannah glaubte ein Recht darauf zu haben, Eddie zu bitten, sie nach Vermont zu chauffieren – Hannah glaubte auf alles ein Recht zu haben. Aber Ruth hatte die beiden für das Wochenende eingeladen, und Hannah war schon immer der Meinung gewesen, daß kein Umweg zu weit oder zu umständlich war, als daß man ihn nicht vorschlagen durfte.
Sie war erstaunt, wie leicht Eddie sich überreden ließ, aber er hatte seine eigenen Gründe, weshalb ihm eine vierstündige Fahrt mit Hannah sinnvoll erschien – vielleicht sogar schicksalhaft. Die beiden Freunde (sofern man Hannah und Eddie so bezeichnen durfte) konnten es kaum erwarten, sich über das zu unterhalten, was ihrer gemeinsamen Freundin widerfahren war. Ruth hatte beiden einen echten Schock versetzt, als sie verkündete, sie habe sich in einen Holländer verliebt und beabsichtige, ihn zu heiraten. Und nicht nur das: Der Holländer war ein ehemaliger Polizist, den sie noch nicht einmal einen Monat lang kannte!
Wenn sich Hannah zwischen zwei Freunden befand, »takelte« sie sich »ab«, wie sie es nannte, was bedeutete, daß sie sich beinahe so schlicht kleidete wie Ruth, in deren Augen sich Hannah nie »abtakelte«. Aber Eddie war aufgefallen, daß Hannahs glattes Haar ungewohnt fettig und ungewaschen aussah und daß sie nicht geschminkt war – ein sicheres Zeichen dafür, daß sie derzeit ohne Freund war. Eddie wußte genau, daß sie ihn sonst auch nie angerufen und gebeten hätte, sie mitzunehmen.
Trotz ihrer vierzig Jahre hatte Hannah kaum etwas von ihrer sexuellen Direktheit eingebüßt, die durch ihre müde wirkenden Augen noch betont wurde. Ihr bernsteinblondes Haar war aschblond geworden (Hannah hatte nachgeholfen), und die bleichen, eingefallenen Wangen unter den hervorstehenden Wangenknochen trugen dazu bei, die raubtierhafte Gier, die sie ausstrahlte, noch zu unterstreichen. Es ist eine eindeutig sexuelle Gier, dachte Eddie, der Hannah während der Fahrt aus den Augenwinkeln betrachtete. Daß es eine Weile her war, seit sie sich die Härchen an der Oberlippe
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