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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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stürzen können, oder ich hätte versuchen können, ihm was über den Schädel zu hauen, vielleicht die Stehlampe. Aber ich habe nichts unternommen. Ich hatte zu große Angst, um mich zu rühren. Ich war unfähig, mich zu rühren«, wiederholte sie.
    »Ihr Glück, daß Sie sich nicht gerührt haben«, meinte Harry. »Er hätte Sie beide umgebracht, wenigstens hätte er es versucht. Der Mann war ein Mörder, er hat acht Prostituierte umgebracht. Nicht bei allen ging es so leicht wie bei Rooie. Und wenn er Sie umgebracht hätte, hätten wir keine Zeugin gehabt.«
    »Ich weiß nicht recht«, meinte Ruth.
    »Ich schon«, sagte Harry. »Sie haben das Richtige getan. Sie sind am Leben geblieben. Sie haben uns als Zeugin weitergeholfen. Außerdem hat er Sie fast gehört. Er sagte, er hätte kurz mal was gehört. Bestimmt haben Sie sich ein bißchen bewegt.«
    Ruth bekam eine Gänsehaut an den Armen, als sie daran dachte, wie der Maulwurfmann sie zu hören geglaubt hatte – er hatte sie wirklich gehört!
    »Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte Ruth leise.
    »Ja, kurz bevor er starb«, sagte Harry. »Glauben Sie mir. Es war gut, daß Sie Angst hatten.«
    Die Tür zu Rooies Zimmer ging auf, und ein beschämt wirkender Mann warf ihnen einen verstohlenen Blick zu, bevor er auf die Straße hinaustrat. Anneke Smeets brauchte ein paar Minuten, um sich wieder zurechtzumachen. Harry und Ruth warteten, bis sie sich wieder in ihrem Fenster postiert hatte. Sobald Anneke die beiden bemerkte, machte sie die Tür auf.
    »Meine Zeugin fühlt sich schuldig«, erklärte Harry Anneke auf holländisch. »Sie meint, sie hätte Rooie vielleicht retten können, wenn sie nicht zu große Angst gehabt hätte, den Schrank zu verlassen.«
    »Deine Zeugin hätte Rooie nur retten können, wenn sie ihre Kundin gewesen wäre«, antwortete Anneke ebenfalls auf holländisch. »Ich meine, sie hätte der Kunde sein müssen und nicht der Mann, den Rooie reingelassen hat.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte Harry, sah aber keine Veranlassung, Ruth die kurze Unterhaltung zu übersetzen.
    »Ich dachte, du hättest dich zur Ruhe gesetzt, Harry«, sagte Anneke. »Wie kommt es, daß du immer noch arbeitest?«
    »Ich arbeite nicht«, antwortete Harry. Ruth hatte nicht die leiseste Ahnung, worüber die beiden sprachen.
    Auf dem Rückweg ins Hotel bemerkte Ruth: »Sie hat unglaublich zugenommen, diese Frau.«
    »Essen ist immer noch besser als Heroin«, entgegnete Harry.
    »Haben Sie Rooie gekannt?« wollte Ruth wissen.
    »Rooie war eine Freundin von mir«, sagte Harry. »Wir wollten mal zusammen verreisen, nach Paris, aber dazu ist es nie gekommen.«
    »Hatten Sie irgendwann mal Sex mit ihr?« wagte Ruth zu fragen.
    »Nein. Aber gewollt hätte ich schon!« gab Harry zu.
    Wieder überquerten sie die Warmoesstraat und kehrten bei der alten Kirche in den Rotlichtbezirk zurück. Noch vor wenigen Tagen hatten sich die südamerikanischen Prostituierten hier gesonnt, aber jetzt stand nur eine Frau in der offenen Tür. Wegen des kühlen Wetters hatte sie einen langen Schal um die Schultern geschlungen, aber man sah trotzdem, daß sie darunter nur Slip und BH trug. Die Prostituierte kam aus Kolumbien und sprach jenes kreative Englisch, das in De Wallen zur Verkehrssprache geworden war.
    »Heilige Muttergottes, Harry! Einsperrst du diese Frau?« rief die Kolumbianerin.
    »Wir machen nur einen kleinen Spaziergang«, entgegnete Harry.
    »Mir hast du gesagt, du bist Pension!« rief ihm die Prostituierte nach.
    »Bin ich auch!« rief Harry zurück. Ruth ließ seinen Arm los.
    »Sie sind pensioniert?« sagte sie mit ihrer ausdruckslosen Vorlesestimme.
    »So ist es«, antwortete der ehemalige Polizist. »Nach vierzig Jahren …«
    »Davon haben Sie mir nichts gesagt«, meinte Ruth.
    »Sie haben nicht danach gefragt«, entgegnete der ehemalige Sergeant Hoekstra.
    »Wenn Sie mich nicht als Polizist verhört haben, in welcher Funktion haben Sie mich dann verhört?« wollte Ruth wissen. »Welche Befugnis haben Sie überhaupt?«
    »Keine«, antwortete Harry fröhlich. »Und ich habe Sie auch nicht verhört. Wir haben nur einen kleinen Spaziergang gemacht.«
    »Sie sind pensioniert«, wiederholte Ruth. »Dafür sehen Sie eigentlich zu jung aus. Wie alt sind Sie überhaupt?«
    »Achtundfünfzig.«
    Wieder kroch ihr eine Gänsehaut über die Arme, denn genauso alt war Allan gewesen, als er starb; trotzdem kam ihr Harry sehr viel jünger vor. Er sah nicht einmal wie fünfzig aus, und

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