Witwe für ein Jahr (German Edition)
daß er sehr gut in Form war, wußte sie bereits.
»Sie haben mich ausgetrickst«, sagte sie.
»Als Sie in Rooies Wandschrank durch den Vorhangspalt geschaut haben«, begann Harry, »waren Sie da als Schriftstellerin interessiert oder als Frau – oder beides?«
»Beides«, antwortete Ruth. »Sie verhören mich noch immer.«
»Ich will auf folgendes hinaus: Ich bin Ihnen zunächst als Polizist gefolgt«, erklärte Harry. »Später war ich als Polizist und als Mann an Ihnen interessiert.«
»Als Mann? Versuchen Sie, mich anzubaggern?« fragte Ruth.
»Und als Leser«, fuhr Harry fort, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Ich habe alle Bücher gelesen, die Sie geschrieben haben.«
»Aber woher wußten Sie, daß ich die Zeugin war?«
»›Es war ein Zimmer, ganz in Rot gehalten, das durch den Buntglaslampenschirm in noch kräftigeres Rot getaucht wurde‹«, zitierte Harry aus ihrem neuen Roman. »›Ich war so nervös, daß ich zu nichts zu gebrauchen war‹«, fuhr er fort. »›Ich konnte der Prostituierten nicht einmal helfen, die Schuhe umzudrehen. Als ich einen Schuh aufhob, ließ ich ihn prompt fallen.‹«
»Okay, okay«, sagte Ruth.
»Ihre Fingerabdrücke waren auf einem von Rooies Schuhen«, fügte Harry hinzu.
Als sie wieder im Hotel angelangt waren, fragte Ruth: »Was werden Sie jetzt mit mir machen?«
Harry sah sie erstaunt an. »Ich habe nichts Bestimmtes vor«, gestand er.
In der Eingangshalle entdeckte Ruth sofort den Journalisten, dem sie ihr letztes Interview in Amsterdam geben würde. Danach hatte sie den Nachmittag frei; sie wollte mit Graham in den Zoo gehen. Mit Maarten und Sylvia hatte sie sich vage zu einem frühen Abendessen verabredet, bevor sie am nächsten Morgen nach Paris weiterfahren wollte.
»Gehen Sie gern in den Zoo?« fragte sie Harry. »Waren Sie schon mal in Paris?«
In Paris entschied sich Harry für das Hotel Duc de Saint-Simon; er hatte zuviel darüber gelesen, um nicht dort abzusteigen. Und einmal hatte er sich vorgestellt, mit Rooie dorthin zu fahren, was er Ruth auch gestand. Harry stellte fest, daß er ihr fast alles sagen konnte, sogar daß er das lothringische Kreuz (das er ihr geschenkt hatte) sehr billig erstanden hatte und daß es ursprünglich für eine Prostituierte gedacht war, die sich erhängt hatte. Ruth meinte, eben wegen dieser Geschichte bedeute ihr das Kreuz noch mehr. (Sie trug es Tag und Nacht, solange sie in Paris waren.)
An ihrem letzten Abend in Amsterdam hatte Harry ihr seine Wohnung im Westen der Stadt gezeigt. Ruth war erstaunt, wie viele Bücher er besaß, daß er gern kochte und einkaufen ging und abends in seinem Schlafzimmer ein Feuer im Kamin anzündete – selbst wenn es warm genug war, um bei offenem Fenster zu schlafen.
Sie lagen zusammen im Bett, während der flackernde Schein der Flammen auf die Bücherregale fiel. Die kühle, sanfte Brise, die von draußen hereinwehte, blähte den Vorhang. Harry erkundigte sich nach Ruths dickerem, kräftigerem rechten Arm, und sie erzählte ihm ihre ganze Squash-Vergangenheit, ohne ihren Hang zu schlimmen Freunden auszulassen; sie erzählte ihm von Scott Saunders, erzählte ihm, was für ein Typ Mann ihr Vater gewesen und wie er gestorben war.
Harry zeigte ihr seine holländische Ausgabe von der Maus, die in der Wand krabbelt . Das war sein Lieblingsbuch als Kind gewesen, bevor er gut genug Englisch konnte, um fast alle Bücher englischsprachiger Autoren im Original zu lesen. Auch Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen hatte er auf holländisch gelesen. Im Bett las Harry ihr die holländische Übersetzung vor, und sie zitierte dazu die englische – aus dem Gedächtnis. (Ruth kannte die Geschichte vom Maulwurfmann auswendig.)
Als Ruth ihm dann von ihrer Mutter und Eddie O’Hare erzählte, war sie nicht überrascht, zu hören, daß Harry sämtliche Margaret-McDermid-Krimis gelesen hatte – sie ging davon aus, daß Polizisten überhaupt nur Kriminalromane lesen –, aber es wunderte sie doch, daß Harry auch alle Bücher von Eddie O’Hare gelesen hatte.
»Du hast ja meine ganze Familie gelesen!« meinte Ruth.
»Sind denn alle Leute, die du kennst, Schriftsteller?« fragte Harry.
In dieser Nacht, im westlichen Teil von Amsterdam, schlief Ruth mit dem Kopf auf Harrys Brust ein; dabei dachte sie die ganze Zeit daran, wie selbstverständlich er mit Graham im Zoo gespielt hatte. Erst hatten sie die Gesichter der Tiere nachgeahmt und dann die Geräusche der Vögel; dann
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