Witwe für ein Jahr (German Edition)
(Ruths Brief hatte Marion auch nicht beantwortet.)
Was soll man nach vierzig Jahren auch erwarten? Daß Marion einen detaillierten Bericht über ihr Leben und Treiben in Toronto abliefert? Daß sie ihnen einen Essay über ihre Erfahrungen mit dem Auswandern schickt? Bestimmt erwarteten nicht einmal Ruth und Eddie, daß Marion zu Ruths zweiter Hochzeit auftauchen würde. »Schließlich hat sie sich bei der ersten auch nicht blicken lassen«, flüsterte Hannah Harry zu, während er ihr Wein nachschenkte.
Harry wußte, wann es klug war, das Thema zu wechseln. Er stimmte, so gut er das aus dem Stegreif vermochte, eine Ode an das Kaminholz an, die kein Ende nehmen wollte. Da keiner wußte, wie er darauf reagieren sollte, blieb der Runde nichts anderes übrig, als zuzuhören. Harry hatte sich Kevin Mertons Pick-up ausgeliehen und einen halben Klafter Hartholz aus Vermont nach Long Island transportiert.
Harry war ein bißchen besessen von seinem Kaminholz, wie Eddie festgestellt hatte. Er fand Harrys ausführliche Darlegungen, die bis zum Ende der Mahlzeit andauerten, nicht gerade fesselnd. (Harry ließ sich noch immer über sein Kaminholz aus, als Eduardo und Conchita nach Hause gingen.) Eddie mochte es ungleich lieber, wenn Harry über Bücher redete. Er kannte nicht viele Menschen, die so viele Bücher gelesen hatten wie Harry – mit Ausnahme seines verstorbenen Vaters.
Während Harry und Eddie nach dem Essen abspülten und Hannah Graham zum Bettgehen fertig machte und ihm noch eine Gutenachtgeschichte vorlas, stand Ruth unter den Sternen am Swimmingpool; er war teilweise ausgelassen und abgedeckt worden, bevor der Winter kam. In der Dunkelheit wirkte die U-förmige Ligusterhecke, die den Pool umgab, wie ein riesengroßer Fensterrahmen, der den Blick auf die Sterne eingrenzte.
Ruth konnte sich kaum mehr an die Zeit erinnern, als es weder den Swimmingpool noch die Hecke ringsum gegeben hatte und der Rasen eine ungemähte Wiese gewesen war, deretwegen ihre Eltern sich gestritten hatten. Ruth kam der Gedanke, daß in anderen kalten Nächten – in denen jemand anders abgespült und ihr Vater oder ein Babysitter sie mit einer Gutenachtgeschichte ins Bett gebracht hatte – ihre Mutter in diesem Garten gestanden haben mußte, unter denselben erbarmungslosen Sternen. Marion hatte bestimmt nicht zum Himmel aufgeblickt und sich so glücklich gefühlt wie ihre Tochter in diesem Augenblick.
Ruth wußte, daß sie Glück gehabt hatte. Mein nächstes Buch sollte vom Schicksal handeln, dachte sie. Davon, daß Glück und Unglück ungleich verteilt sind, wenn nicht schon bei der Geburt, dann aufgrund von Lebensumständen, auf die wir keinen Einfluß haben; und abhängig von dem scheinbar zufälligen Muster zusammentreffender Ereignisse – davon, welchen Menschen wir begegnen, wann wir ihnen begegnen und ob oder wann diese für uns wichtigen Menschen vielleicht zufällig jemand anderem begegnen. Ruth hatte nur ein wenig Pech gehabt. Wie kam es, daß ihre Mutter so viel Pech gehabt hatte?
»Ach, Mummy«, sagte Ruth zu den kalten Sternen, »komm und freu dich an deinem Enkel, solange du noch die Möglichkeit dazu hast.«
Oben im Elternschlafzimmer – in demselben Kingsize-Bett, in dem sie mit Ted Cole geschlafen hatte – versuchte Hannah noch immer, dem Enkel, den Ted nicht mehr erlebt hatte, eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Große Fortschritte hatte sie nicht gemacht; die Rituale des Zähneputzens und Schlafanzugauswählens hatten länger gedauert als erwartet. Ruth hatte Hannah gesagt, Graham sei ganz wild auf die Madeline-Bücher, aber Graham war da nicht so sicher.
»Auf welches bin ich denn wild?« erkundigte er sich.
»Auf alle!« sagte Hannah. »Such dir eines aus, das lese ich dir dann vor.«
» Madeline und die Zigeuner mag ich nicht«, teilte Graham ihr mit.
»Gut. Dann lesen wir das nicht«, sagte Hannah. »Ich mag es auch nicht.«
»Und warum?« fragte Graham.
»Aus demselben Grund, aus dem du es nicht magst«, antwortete Hannah. »Such dir eines aus, das du magst. Such dir irgendeine Geschichte aus.«
» Madeline wird gerettet ist langweilig«, erklärte Graham.
»Na gut. Ich finde es auch langweilig«, meinte Hannah. »Such dir eines aus, das du magst.«
»Ich mag Madeline und der schlimme Hut «, entschied der Junge, »aber Pepito mag ich nicht, den mag ich überhaupt nicht.«
»Kommt Pepito denn nicht in Madeline und der schlimme Hut vor?« fragte Hannah.
»Das mag ich ja an der Geschichte
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