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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nicht«, antwortete Graham.
    »Graham, du sollst dir eine Geschichte aussuchen, die du magst .«
    »Wirst du ungeduldig?«
    »Ich? Nein, nie. Ich habe den ganzen Tag Zeit.«
    »Es ist Abend«, stellte Graham richtig. »Der Tag ist vorbei.«
    »Wie wäre es mit Madeline in London ?« schlug Hannah vor.
    »Da drin kommt Pepito auch vor.«
    »Und wie wäre es mit der guten alten Madeline , der ursprünglichen Madeline ?«
    »Was heißt ›ursprünglich‹?«
    »Die allererste.«
    »Die habe ich schon so oft gehört.«
    Hannah ließ den Kopf hängen. Zum Abendessen hatte sie ziemlich viel Wein getrunken. Sie mochte Graham, der ihr einziges Patenkind war, wirklich sehr gern, aber es gab Zeiten, da bestärkte er sie in ihrem Entschluß, selbst keine Kinder zu bekommen.
    »Ich möchte Madelines Weihnachten hören«, verkündete Graham schließlich.
    »Aber wir haben erst Thanksgiving«, meinte Hannah. »Willst du an Thanksgiving wirklich eine Weihnachtsgeschichte hören?«
    »Du hast doch gesagt, ich soll mir eine aussuchen, die ich mag.«
    Ihre Stimmen drangen bis nach unten in die Küche, wo Harry die Bratpfanne schrubbte. Eddie trocknete eine Bratschaufel, indem er sie geistesabwesend durch die Luft schwenkte. Er hatte sich mit Harry über das Thema Toleranz unterhalten, schien aber den Faden verloren zu haben. Angefangen hatte ihre Unterhaltung mit der in den Vereinigten Staaten herrschenden Intoleranz (vor allem in bezug auf Rasse und Religion), aber Harry spürte, daß Eddie bei dem Gespräch unversehens in persönlichere Gefilde geriet; und wirklich wollte er Harry soeben seine intolerante Haltung Hannah gegenüber gestehen, als er von ihrer Stimme, die sich mit der von Graham abwechselte, abgelenkt wurde.
    Harry kannte sich mit Toleranz aus. Er hätte Eddie oder dessen Landsleute nicht unbedingt davon zu überzeugen versucht, daß die Holländer toleranter waren als die meisten Amerikaner, aber in Harrys Augen war es so. Er spürte, wie wenig Toleranz Hannah Eddie entgegenbrachte, nicht nur, weil er (in ihren Augen) etwas Mitleiderregendes an sich hatte und ihr sein immer gleiches Schwärmen für ältere Frauen auf die Nerven ging, sondern auch, weil Eddie kein berühmter Autor war.
    In diesem Land gibt es keine Form der Intoleranz, die sich mit der spezifisch amerikanischen Intoleranz gegenüber Versagern vergleichen läßt, dachte Harry. Zwar konnte er Eddies Büchern nichts abgewinnen, aber ihn selbst mochte er sehr gern, vor allem wegen der unerschütterlichen Zuneigung, die er Ruth entgegenbrachte. Offen gestanden wurde Harry nicht recht schlau aus Eddies Verehrung für Ruth; bestimmt hatte sie etwas mit der verschwundenen Mutter zu tun, denn Harry merkte deutlich, daß Marions Abwesenheit das war, was Ruth und Eddie am stärksten verband. Diese Abwesenheit war ein grundlegender Faktor in ihrer beider Leben – ähnlich wie früher für Rooie die tote Tochter.
    Was Hannah betraf, so verlangte sie noch mehr Toleranz, als Harry bereit war aufzubringen. Ihre Zuneigung zu Ruth war weniger verläßlich als die von Eddie. Außerdem entdeckte der ehemalige Sergeant Hoekstra in der Art, wie Hannah ihn ansah, etwas, was ihm allzu bekannt vorkam. Hannah hatte das Herz einer Prostituierten, und daß das nicht das sprichwörtliche Herz aus Gold war, wußte Harry nur zu gut. Das Herz einer Prostituierten war in erster Linie berechnend. Und auf Zuneigung, die auf Berechnung basierte, konnte man sich nicht verlassen.
    Es ist nicht immer ganz einfach, mit den Freunden des Menschen auszukommen, in den man sich verliebt hat, aber Harry wußte, wann es besser war, den Mund zu halten und sich auf die Rolle des Beobachters zu beschränken.
    Während Harry einen Topf Brühe auf den Herd stellte, erkundigte sich Eddie nach den Plänen des ehemaligen Polizisten für den Ruhestand, da er (wie Hannah) noch immer nicht recht begreifen konnte, was Harry mit sich anfangen wollte. Könnte ihn unter Umständen eine Tätigkeit bei den Polizeibehörden in Vermont interessieren? Oder würde er, da er ein so begeisterter Leser mit einem so guten Urteilsvermögen war, vielleicht eines Tages versuchen, selbst einen Roman zu schreiben? Außerdem sah man auf Anhieb, daß er gern mit den Händen arbeitete. Würde ihn irgendein Job an der frischen Luft reizen?
    Aber Harry erklärte Eddie, daß er sich nicht zur Ruhe gesetzt habe, um sich einen anderen Job zu suchen. Er wolle mehr lesen; er wolle reisen, aber nur, wenn Ruth Zeit habe mitzukommen. Und

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