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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fahren wollte. Überrascht stellte er fest, daß er seinem Vater dankbar dafür war, daß er ihn gezwungen hatte, ein paar Anzughemden und Krawatten und ein »Allzweck«-Sportsakko einzupacken. Doch als Marion ihn in seiner üblichen Exeter-Aufmachung sah, meinte sie, er könne sich entweder die Krawatte oder das Sakko sparen – dort, wo sie hingehen wollten, brauchte er nicht beides. Das Restaurant in East Hampton war weniger schick, als Eddie erwartet hatte, und man merkte sofort, daß die Kellner daran gewöhnt waren, Marion hier zu sehen; sie brachten ihr sofort Wein, insgesamt drei Gläser, ohne daß sie ihn zu bestellen brauchte.
    Sie war gesprächiger, als Eddie sie je erlebt hatte. »Ich war schon schwanger mit Thomas, als ich Ted geheiratet habe. Damals war ich nur ein Jahr älter als du«, erzählte sie. (Der Altersunterschied zwischen ihnen war ein ständig wiederkehrendes Thema bei ihr.) »Als du auf die Welt gekommen bist, war ich dreiundzwanzig. Wenn du so alt bist wie ich jetzt, bin ich zweiundsechzig«, fuhr sie fort. Zweimal machte sie eine Anspielung auf ihr Geschenk: die hellrosa Kaschmirjacke. »Wie hat dir meine kleine Überraschung gefallen?« fragte sie.
    »Sehr gut!« stammelte er.
    Um rasch das Thema zu wechseln, erzählte sie, daß Ted sein Studium in Harvard eigentlich nicht abgebrochen hatte. Man hatte ihm nahegelegt, eine Pause einzulegen – »wegen ›mangelnder Leistung‹, hieß es, glaube ich«, sagte Marion.
    In der Autorenbiographie auf den Schutzumschlägen all seiner Bücher hieß es, Ted Cole habe sein Harvard-Studium an den Nagel gehängt. Anscheinend gefiel ihm diese Halbwahrheit: Sie implizierte, daß er intelligent genug war, um in Harvard zugelassen zu werden, und Individualist genug, um nicht unbedingt dort bleiben zu wollen. »Aber in Wirklichkeit war er schlicht und einfach faul«, sagte Marion. »Er hatte noch nie Lust, hart zu arbeiten.« Nach einer Weile fragte sie Eddie: »Und wie läßt sich die Arbeit für dich an?«
    »Es gibt nicht viel zu tun«, gestand er.
    »Das hätte mich auch gewundert«, antwortete sie. »Ted hat dich kommen lassen, weil er einen Chauffeur braucht.«
    Marion ging noch auf die High-School, als sie Ted kennenlernte und von ihm schwanger wurde. Doch in den Jahren, in denen Thomas und Timothy heranwuchsen, hatte sie eine dem High-School-Abschluß entsprechende Prüfung abgelegt; und an verschiedenen Colleges in ganz New England hatte sie in Etappen nebenbei studiert. Es dauerte zehn Jahre, bis sie 1952 ihren Abschluß an der University of New Hampshire machte – nur ein Jahr bevor ihre Söhne ums Leben kamen. Sie hatte vorwiegend Literatur und Geschichte belegt, viel mehr Kurse, als für einen College-Abschluß erforderlich gewesen wären; daß sie sich weigerte, auch die anderen für einen Abschluß vorgeschriebenen Kurse zu absolvieren, hatte die Sache hinausgezögert. »Am Ende wollte ich nur einen College-Abschluß, weil Ted keinen hat«, erklärte sie Eddie.
    Thomas und Timothy waren stolz auf sie gewesen, weil sie es geschafft hatte. »Ich hatte mich gerade darauf eingestellt, mit dem Schreiben anzufangen, als sie starben«, vertraute Marion Eddie an. »Damit war alles zu Ende.«
    »Du hast geschrieben?« fragte Eddie. »Und weshalb hast du aufgehört?«
    Sie sagte, es sei ihr unmöglich gewesen, immer wieder zu den Gedanken tief in ihrem Innern zurückzukehren, weil sie an nichts anderes habe denken können als an den Tod ihrer Jungen; sie durfte ihrer Phantasie keinen freien Lauf lassen, denn sie hätte sie unweigerlich zu Thomas und Timothy geführt. »Dabei war ich früher so gern allein mit meinen Gedanken«, gestand sie Eddie. Daß Ted mit seinen Gedanken jemals gern allein war, bezweifelte sie. »Deshalb legt er seine Geschichten auch immer so kurz an und schreibt nur noch für Kinder. Und deshalb zeichnet er und zeichnet und zeichnet.«
    Eddie, der gar nicht gemerkt hatte, wie sehr ihm die Hamburger zum Hals heraushingen, verspeiste ein gewaltiges Essen.
    »Nicht einmal die Liebe kann den Appetit eines Sechzehnjährigen beeinträchtigen!« bemerkte Marion. Eddie errötete; er durfte nicht sagen, wie sehr er sie liebte. Es hatte ihr nicht gefallen.
    Und dann erzählte sie ihm, als sie die hellrosa Kaschmirjacke auf dem Bett drapiert und dann einen passenden BH und ein Höschen dazu ausgesucht und entsprechend arrangiert hatte – »für den imaginären Akt«, wie sie es formulierte –, sei ihr bewußt geworden, daß das der

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