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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Nachtlicht im Elternschlafzimmer warf einen so matten Schein in Ruths Zimmer, daß die wenigen Fotografien von Thomas und Timothy kaum zu erkennen waren; trotzdem wollte Marion unbedingt, daß Eddie sie sich ansah. Sie erzählte ihm, was die Jungen auf den einzelnen Fotos gerade gemacht hatten und warum sie speziell diese Fotos für Ruths Zimmer ausgewählt hatte. Dann führte sie Eddie ins angrenzende Bad; die Fotos, die dort hingen, wurden vom Nachtlicht kaum besser beleuchtet. Eddie stellte fest, daß hier das Thema Wasser vorherrschte, das Marion für das Bad passend erschienen war: ein Urlaub in Tortola und einer in Anguilla; ein sommerliches Picknick an einem Teich in New Hampshire; und Thomas und Timothy, beide jünger als Ruth, zusammen in der Badewanne – Tim weinte, Tom aber nicht. »Er hat Seife in die Augen bekommen«, flüsterte Marion.
    Der Rundgang führte weiter ins Elternschlafzimmer, das Eddie noch nie betreten hatte. Auch die Fotos, von denen jedes Marion eine Geschichte entlockte, hatte er noch nie gesehen. Und so ging es weiter, durch das ganze Haus. Sie wanderten von Raum zu Raum, von Foto zu Foto, bis Eddie begriff, weshalb sich Ruth so über die kleinen Papierstreifen aufgeregt hatte, die Thomas’ und Timothys nackte Füße verdeckten. Bestimmt hatte Ruth diese Führung durch die Vergangenheit schon sehr, sehr oft gemacht – vermutlich sowohl auf dem Arm ihres Vaters als auch auf dem ihrer Mutter –, und bestimmt waren die Geschichten zu den Fotos für das Kind ebenso wichtig wie die Fotos. Vielleicht sogar noch wichtiger. Ruth wuchs nicht nur mit der überwältigenden Gegenwart ihrer toten Brüder auf, sondern auch mit der beispiellosen Tragweite ihrer Abwesenheit.
    Die Fotos waren gleichbedeutend mit den Geschichten und umgekehrt. An den Fotos etwas zu verändern, wie Eddie es getan hatte, war so undenkbar wie eine Revision der Vergangenheit. Die Vergangenheit, in der Ruths tote Brüder lebten, ließ sich nicht revidieren. Eddie schwor sich, alles wiedergutzumachen und Ruth dahingehend zu beruhigen, daß alles, was man ihr je über ihre toten Brüder erzählt hatte, unveränderlich war. In einer unsicheren Welt, in der die Zukunft ungewiß war, konnte sie sich wenigstens darauf verlassen. Oder etwa doch nicht?
    Nach über einer Stunde beendete Marion den Rundgang in Eddies Schlafzimmer und dem Gästebad, das er benutzte. Die Tatsache, daß es sich bei dem letzten Foto, das Marion zum Erzählen einer Geschichte über die Begleitumstände veranlaßte, um das Foto handelte, auf dem sie mit den zwei nackten Füßen ihrer Söhne im Bett zu sehen war, hatte etwas durchaus angemessen Schicksalhaftes.
    »Ich liebe dieses Foto von dir«, stieß Eddie mühsam hervor, freilich ohne daß er gewagt hätte hinzuzufügen, daß er mit Blick auf Marions nackte Schultern und ihr Lächeln onaniert hatte. Und nun betrachtete Marion sich selbst auf dem zwölf Jahre alten Foto, als wäre es das erste Mal.
    »Damals war ich siebenundzwanzig«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Wehmut über die verflossene Zeit.
    Sie war bei ihrem fünften Glas Wein angelangt, das sie jetzt mechanisch austrank. Dann drückte sie Eddie das leere Glas in die Hand. Er blieb noch eine geschlagene Viertelstunde wie festgewachsen im Gästebad stehen, nachdem Marion ihn verlassen hatte.
    Am nächsten Morgen hatte Eddie im Kutscherhaus gerade angefangen, die hellrosa Kaschmirjacke auf dem Bett zu drapieren – dazu ein veilchenfarbenes Seidenhemdchen mit dazu passendem Höschen –, als er Marion demonstrativ laut die Treppe aus der Garage herauftrampeln hörte. Sie klopfte nicht an, sie hämmerte an die Tür. Diesmal würde sie Eddie nicht bei seinem Tun überraschen. Er hatte sich noch nicht ausgezogen, um sich neben ihre Kleidungsstücke zu legen. Trotzdem war er einen Moment lang unschlüssig, und dann war es zu spät, um Marions Sachen wegzuräumen. Gerade hatte er überlegt, was für eine unkluge farbliche Entscheidung es gewesen war, Rosa mit Violett zu kombinieren. Doch ihn machten nicht die Farben an – ihn reizten die Spitze am Taillenabschluß des Höschens und der Spitzeneinsatz an dem atemberaubenden Ausschnitt des Hemdchens. Eddie haderte noch immer mit seiner Entscheidung, als Marion ein zweites Mal an die Tür hämmerte; er ließ ihre Sachen auf dem Bett liegen und eilte an die Tür.
    »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Marion lächelnd. Sie trug eine Sonnenbrille, die sie beim Eintreten absetzte. Zum

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