Witwe für ein Jahr (German Edition)
zum erstenmal das Gefühl gehabt, fast ein Mann zu sein, aber er mußte sie erst verlieren, um wirklich etwas zu sagen zu haben. Erst der Gedanke an ein Leben ohne Marion verlieh Eddie O’Hare die Fähigkeit zu schreiben.
»Haben Sie Marion Coles Bild vor Augen?« schrieb Eddie. »Ich meine, können Sie sich vorstellen, wie sie aussieht?« Eddie zeigte Mrs. Pierce seine ersten beiden Sätze.
»Ja, natürlich, sie ist sehr schön«, sagte die Geschäftsführerin.
Eddie nickte. Dann schrieb er weiter: »Gut. Obwohl ich Mr. Coles Assistent bin, habe ich mit Mrs. Cole geschlafen. Ich würde schätzen, daß Marion und ich uns in diesem Sommer ungefähr sechzigmal geliebt haben.«
»Sechzigmal?« fragte Mrs. Pierce laut. Sie war um den Ladentisch herumgekommen, um über seine Schulter lesen zu können, was er schrieb.
Eddie schrieb weiter: »Wir haben es sechs, fast sieben Wochen lang getan, für gewöhnlich zweimal am Tag, nicht selten öfter. Aber zwischendurch hatte sie eine Infektion, und wir konnten es nicht tun. Und wenn man noch ihre Periode mit einkalkuliert …«
»Verstehe, dann also ungefähr sechzigmal«, sagte Penny Pierce. »Weiter.«
»Gut«, schrieb Eddie. »Während Marion und ich ein Liebespaar waren, hatte Mr. Cole – er heißt mit Vornamen Ted – eine Geliebte. Eigentlich war sie sein Modell. Kennen Sie Mrs. Vaughn?«
»Die Vaughns in der Gin Lane? Die haben eine ansehnliche Sammlung«, sagte Mrs. Pierce. (Den Auftrag, diese Bilder zu rahmen, hätte sie zu gern bekommen!)
»Ja, diese Mrs. Vaughn«, schrieb Eddie. »Sie hat einen kleinen Sohn.«
»Ja, ja, ich weiß!« sagte Mrs. Pierce. »Bitte fahren Sie fort.«
»Gut«, schrieb Eddie. »Heute morgen hat Ted – ich meine, Mr. Cole – mit Mrs. Vaughn Schluß gemacht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich diese Affäre auf gute Weise hätte beenden lassen. Mrs. Vaughn wirkte ziemlich aufgeregt. Und in der Zwischenzeit packt Marion zusammen. Sie geht fort. Ted weiß es nicht, aber so ist es. Und das hier ist Ruth, sie ist vier.«
»Ja, ja!« warf Penny Pierce ein.
»Ruth weiß auch nicht, daß ihre Mutter weggeht«, schrieb Eddie. »Ruth und ihr Vater werden beide in das Haus in Sagaponack zurückkehren und merken, daß Marion weg ist. Und mit ihr sämtliche Fotos, all die vielen Fotos, die bei Ihnen gerahmt worden sind – alle bis auf das, das Sie hier haben.«
»Ja, ja … Mein Gott, was ?« sagte Penny Pierce. Ruth blickte sie finster an. Mrs. Pierce gab sich große Mühe, das Kind anzulächeln.
Eddie schrieb: »Marion nimmt sämtliche Fotos mit. Wenn Ruth nach Hause kommt, ist ihre Mutter weg und mit ihr sämtliche Fotos. Alle sind weg, ihre toten Brüder und ihre Mutter. Das Besondere an den Fotos ist, daß zu jedem eine Geschichte gehört; es sind Hunderte von Geschichten, und Ruth kennt sie alle auswendig.«
»Was verlangen Sie von mir?« rief Mrs. Pierce.
»Nur das Foto von Ruths Mutter«, sagte Eddie mit Nachdruck. »Das, auf dem sie im Bett liegt, in einem Pariser Hotelzimmer …«
»Ja, ich kenne das Bild. Natürlich können Sie es haben!« sagte Penny Pierce.
»Damit wäre die Sache erledigt«, sagte Eddie. Und er schrieb: »Ich dachte mir nur, daß die Kleine heute abend wahrscheinlich dringend etwas braucht, was sie neben ihr Bett stellen kann. Alle anderen Bilder sind fort, alle Fotos, die ihr so vertraut sind. Und deshalb sollte sie wenigstens ein Bild von ihrer Mutter haben.«
»Aber es ist kein gutes Foto von den Jungen, man sieht nur ihre Füße«, unterbrach ihn Mrs. Pierce.
»Ja, ich weiß«, sagte Eddie. »Aber die Füße mag Ruth besonders gern.«
»Sind die Füße fertig?« fragte Ruth.
»Ja, sind sie, Kindchen«, sagte Penny Pierce beflissen.
»Willst du meine Fäden sehen?« fragte Ruth die Geschäftsführerin. »Und meinen Schorf?«
»Das Briefkuvert liegt im Auto, Ruth, im Handschuhfach«, erklärte Eddie.
»Hm«, sagte Ruth. »Und wo ist das Handschuhfach?«
»Ich sehe gleich mal nach, ob das Foto fertig ist«, verkündete Penny Pierce. »Ich bin sicher, daß es gleich fertig ist.« Nervös schob sie die Papierbögen auf dem Ladentisch zusammen und nahm sie an sich, obwohl Eddie den Stift noch in der Hand hielt. Bevor sie sich entfernen konnte, hielt er sie am Arm fest.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und gab ihr den Stift. »Der Stift gehört Ihnen, aber könnte ich bitte wiederhaben, was ich geschrieben habe?«
»Ja, aber sicher!« antwortete Mrs. Pierce. Sie gab ihm das gesamte Papier,
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