Witwe für ein Jahr (German Edition)
auch die unbeschriebenen Bögen.
»Was hast du gemacht?« wollte Ruth von Eddie wissen.
»Ich habe der Dame eine Geschichte erzählt«, erklärte Eddie.
»Erzähl mir die Geschichte.«
»Ich erzähl dir eine andere Geschichte, nachher im Auto«, versprach Eddie. »Nachdem wir das Foto von deiner Mummy bekommen haben.«
»Und von den Füßen!«
»Und von den Füßen.«
»Was für eine Geschichte erzählst du mir denn?« wollte Ruth wissen.
»Das weiß ich noch nicht«, gab Eddie zu. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen; erstaunlicherweise beunruhigte ihn das nicht im mindesten. Er war überzeugt, daß ihm schon eine Geschichte einfallen würde. Und er machte sich auch keine Sorgen mehr um das, was er Ted zu sagen hatte. Er würde ihm alles sagen, was Marion ihm aufgetragen hatte – und was ihm sonst noch einfiel. Ich kann es, davon war er überzeugt. Er besaß die nötige Autorität.
Das war auch Penny Pierce klar. Als sie aus dem hinteren Teil des Geschäfts zurückkehrte, kam sie nicht nur mit dem neu gerahmten Foto. Obwohl sie sich nicht umgezogen hatte, schien sie wie verwandelt; sie kam mit einer völlig anderen Ausstrahlung zurück, nicht nur mit einem frischen Duft (einem neuen Parfum); ihr ganzes Auftreten hatte sich grundlegend verändert, so daß sie beinahe attraktiv erschien. Auf Eddie wirkte sie fast schon verführerisch, während er sie vorher als Frau gar nicht wahrgenommen hatte.
Das Haar, das zuvor hochgesteckt war, trug sie jetzt offen. Auch an ihrem Make-up hatte sie ein paar Veränderungen vorgenommen. Was genau sie mit sich angestellt hatte, konnte Eddie nicht im einzelnen sagen. Ihre Augen waren dunkler und ausdrucksvoller; auch der Lippenstift schien dunkler. Ihr Gesicht war, wenn auch nicht jugendlicher, so doch leicht gerötet. Und sie hatte ihre Kostümjacke aufgeknöpft und die Ärmel hochgeschoben; außerdem hatte sie die oberen zwei Knöpfe ihrer Bluse aufgemacht. (Vorher war nur der oberste Knopf offen gewesen.)
Als sie sich hinunterbeugte, um Ruth das Foto zu zeigen, kam ein tiefes Dekolleté zum Vorschein, das Eddie nie vermutet hätte; als sie sich wieder aufrichtete, flüsterte sie Eddie zu: »Natürlich berechnen wir nichts für das Rahmen.«
Eddie nickte und lächelte, aber Mrs. Pierce war noch nicht mit ihm fertig. Sie hielt ihm einen Bogen Briefpapier hin; sie hatte eine Frage an ihn, die sie aufgeschrieben hatte, da sie eine solche Frage in Anwesenheit des kleinen Mädchens nie laut gestellt hätte.
»Verläßt Marion Cole auch Sie?« hatte sie geschrieben.
»Ja«, sagte Eddie. Mitfühlend drückte Mrs. Pierce sein Handgelenk.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. Eddie wußte nicht, was er sagen sollte.
»Ist das Blut wieder ganz weg?« fragte Ruth. Ihr kam es wie ein Wunder vor, daß das Foto so vollkommen wiederhergestellt war. Sie selbst hatte von dem Unfall eine Narbe zurückbehalten.
»Ja, Kindchen, es ist so gut wie neu!« erklärte Mrs. Pierce dem Kind. »Junger Mann«, fügte sie hinzu, als Eddie Ruth an der Hand nahm, »falls Sie je einen Job brauchen …« Da Eddie in einer Hand das Bild hatte und mit der anderen Ruths Hand hielt, hatte er keine Hand frei, um die Visitenkarte entgegenzunehmen, die Penny Pierce ihm geben wollte. Mit einer Bewegung, die Eddie daran erinnerte, wie Marion ihm den Zehndollarschein in die rechte Gesäßtasche gesteckt hatte, schob Mrs. Pierce die Visitenkarte energisch vorn in seine linke Tasche. »Vielleicht nächsten Sommer oder übernächsten. Im Sommer brauche ich immer Hilfe«, sagte sie.
Wieder wußte Eddie nicht, was er sagen sollte; wieder nickte er nur und lächelte. Ein todschicker Laden, dieses Rahmengeschäft. Der Verkaufsraum zeugte von Geschmack; an den Wänden hingen fast ausschließlich einzeln angefertigte Rahmen. Unter den Plakaten, die im Sommer immer besonderen Zuspruch fanden, nahmen Filmposter aus den dreißiger Jahren den meisten Raum ein – Greta Garbo als Anna Karenina, Margaret Sullavan als die Frau, die am Ende des Films Drei Kameraden stirbt und sich in einen Geist verwandelt. Wein- und Spirituosenwerbung war auch ein beliebtes Postermotiv: Ein gefährlich aussehender Vamp nippte an einem Campari Soda, und ein Mann, so attraktiv wie Ted Cole, trank einen Martini, der mit genau der richtigen Menge des richtigen Vermouths gemixt war.
Cinzano, hätte Eddie beinahe laut gesagt – er versuchte sich gerade vorzustellen, wie es wohl wäre, hier zu arbeiten. Es sollte etwa anderthalb Jahre
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