Witwe für ein Jahr (German Edition)
mochte das hersein? – rund fünf Jahren nicht mehr gesehen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Marion alle Schnappschüsse von den Jungen hergebracht hatte; die Negative waren zum Teil verkratzt. Solange die Jungen noch am Leben waren, besaßen die alten Aufnahmen keinen besonderen Stellenwert und wurden nicht sehr sorgfältig behandelt. Nach dem Tod der Jungen hatte Marion vermutlich das Gefühl, daß jeder Schnappschuß es wert war, vergrößert und gerahmt zu werden, ob verkratzt oder nicht.
Da Mrs. Pierce über den Unfall Bescheid wußte, konnte sie es sich damals einfach nicht verkneifen, sich alle Fotos genau anzusehen. »Aha, das ist es also«, sagte sie, als sie das Foto von Marion im Bett mit den Füßen ihrer Jungen sah. Schon beim erstenmal war ihr aufgefallen, wie deutlich man Marion auf diesem Foto ansah, daß sie glücklich war – und dazu unvergleichlich schön. Marions Schönheit war unverändert geblieben, aber das Glück hatte sie verlassen. Diese Tatsache fiel anderen Frauen an Marion sofort auf. Zwar hatten weder Schönheit noch Glück Penny Pierce vollkommen im Stich gelassen, aber ihr war auch keines von beidem je in dem Umfang zuteil geworden wie Marion.
Mrs. Pierce nahm mehrere Bogen Briefpapier aus ihrem Schreibtisch, ehe sie zu Eddie hinausging. »Ich kann verstehen, daß Sie verärgert sind. Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte sie freundlich zu dem gutaussehenden Sechzehnjährigen, der für ihre Begriffe nicht den Eindruck machte, als könnte er jemandem Angst einjagen. (Ich muß mir unbedingt eine bessere Kraft suchen, überlegte sie, während sie weitersprach; aufgrund seines Aussehens unterschätzte sie Eddie. Je genauer sie ihn betrachtete, um so mehr fand sie, daß er zu hübsch war, um als gutaussehend bezeichnet zu werden.) »Wenn meine Kunden verärgert sind, bitte ich sie immer, ihre Beschwerden schriftlich niederzulegen – falls Sie nichts dagegen haben«, fuhr Mrs. Pierce, sehr freundlich, fort und schob Eddie Papier und Stift hin.
»Ich arbeite für Mr. Cole. Ich bin sein Assistent«, sagte Eddie.
»Dann macht Ihnen Schreiben bestimmt nichts aus, nicht wahr?« meinte Mrs. Pierce.
Eddie griff zum Stift. Die Geschäftsführerin lächelte ihn aufmunternd an. Sie war weder schön noch überschäumend glücklich, aber auch nicht unattraktiv, und außerdem war sie gutmütig. Nein, er hatte nichts dagegen, zu schreiben, stellte er im stillen fest. Es war genau die Aufforderung, die er brauchte; genau das, was sich die Stimme, die so lange in ihm eingesperrt war, wünschte. Er wollte unbedingt schreiben. Schließlich hatte er sich deshalb diesen Job ausgesucht. Doch statt der Möglichkeit, zu schreiben, hatte er Marion bekommen. Jetzt, wo er sie verlor, entdeckte er das, was er sich zu Beginn des Sommers gewünscht hatte.
Ted Cole hatte ihm im Grunde genommen nichts beigebracht. Was Eddie von ihm gelernt hatte, hatte er aus Teds Büchern gelernt. Es sind immer nur ein paar Sätze, aus denen ein Schriftsteller von einem anderen etwas lernen kann. Aus dem Buch Die Maus, die in der Wand krabbelt hatte Eddie nur aus zwei Sätzen etwas gelernt. Der erste lautete: »Tom wachte auf, Tim aber nicht.« Und dann gab es noch den Satz: »Es war ein Geräusch, wie wenn in Mummys Schrank ein Kleid lebendig wird und von seinem Kleiderbügel runterklettern will.«
Während dieser Satz Ruths Einstellung zu Schränken und Kleidern bis an ihr Lebensende beeinflußte, hatte Eddie das Geräusch dieses Kleides, das zum Leben erwacht und von seinem Bügel herunterklettert, so deutlich im Ohr wie nur irgendein Geräusch, das er jemals gehört hatte; und im Schlaf konnte er sehen, wie sich das geschmeidige Kleid im Halbdunkel des Schrankes bewegte.
Auch Die Tür im Boden begann mit einem Satz, der gar nicht schlecht war: »Es war einmal ein kleiner Junge, der nicht wußte, ob er auf die Welt kommen wollte.« Am Ende des Sommers 1958 begriff Eddie endlich, wie diesem kleinen Jungen zumute gewesen sein mußte. Und dann gab es noch den Satz: »Und seine Mutter wußte auch nicht, ob sie ihn auf die Welt bringen wollte.« Erst nachdem Eddie Marion begegnet war, konnte er ermessen, was diese Mutter empfand.
An jenem Freitag im Rahmengeschäft in Southampton kam Eddie eine Erkenntnis, die sein Leben veränderte: Wenn aus dem Schriftstellerassistenten ein Schriftsteller geworden war, dann deshalb, weil Marion ihm seine Stimme gegeben hatte. Zwar hatte er in ihren Armen – in ihrem Bett, in ihr –
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