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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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krabbelt . Auch die einzige, höchst unbefriedigende Antwort, die sie auf ihre vielen Fragen bekam, konnte sie nicht trösten.
    »Wann kommt Mummy zurück?« vermochte den Erwachsenen nicht mehr zu entlocken als den immer gleichen Refrain: »Ich weiß es nicht«, den Ruth von ihrem Vater und Eddie und inzwischen auch von dem fassungslosen Kindermädchen zu hören bekam. Die kurze Lektüre raubte Alice ihr bisheriges Selbstbewußtsein. Sie wiederholte ihr jämmerliches »Ich weiß es nicht« so leise, daß man es kaum hören konnte.
    Ruth fragte weiter: »Wo sind die Fotos jetzt? Ist wieder ein Glas zerbrochen? Wann kommt Mummy zurück?«
    Mit welchen Antworten hätte man sie in Anbetracht ihrer begrenzten Vorstellung von Zeit trösten können? Vielleicht wäre es mit »morgen« gelungen, aber spätestens am Abend des nächsten Tages wäre klar gewesen, daß Marion noch immer verschwunden war. Statt »nächste Woche« oder »nächsten Monat« hätte man einer Vierjährigen ebensogut »nächstes Jahr« antworten können. Und die Wahrheit hätte Ruth weder zu trösten vermocht, noch hätte sie sie begriffen: Ruths Mummy würde überhaupt nicht zurückkommen – siebenunddreißig Jahre lang nicht.
    »Vermutlich hat Marion nicht vor zurückzukommen«, sagte Ted zu Eddie, als sie endlich allein waren.
    »Das sagt sie jedenfalls«, erwiderte Eddie. Sie waren in Teds Werkstatt, wo Ted sich sofort einen Drink eingeschenkt hatte. Und er hatte Dr. Leonardis angerufen und die vereinbarte Squashpartie abgesagt. (»Ich kann heute nicht spielen, Dave, meine Frau hat mich verlassen.«) Eddie fühlte sich genötigt, Ted mitzuteilen, daß Marion überzeugt gewesen sei, er würde sich von Dr. Leonardis nach Hause fahren lassen. Als Ted ihm sagte, er sei in die Buchhandlung in Southampton gegangen, hatte Eddie sein erstes und letztes religiöses Erlebnis.
    Sieben, fast acht Jahre lang – seine ganze College-Zeit hindurch, wenn auch nicht bis zum Ende seines Aufbaustudiums – war Eddie zwar nicht übermäßig, aber doch ernsthaft religiös, weil er glaubte, Gott oder sonst eine Himmelsmacht müsse verhindert haben, daß Ted den Chevy bemerkte, der die ganze Zeit, während Eddie und Ruth in Penny Pierces Rahmengeschäft wegen des Fotos verhandelt hatten, schräg gegenüber der Buchhandlung gestanden hatte. (Wenn das kein Wunder war, was dann?)
    »Also, wo steckt sie?« fragte Ted und ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Eddie.
    »Lüg mich nicht an!« schrie Ted. Ohne sein Glas abzustellen, schlug er Eddie mit der freien Hand ins Gesicht. Eddie tat, was Marion ihm eingeschärft hatte. Er machte eine Faust – zögernd, weil er noch nie jemanden geschlagen hatte – und stieß sie Ted ins Gesicht.
    »Herrgott noch mal!« rief Ted. Er drehte sich im Kreis und verschüttete seinen Drink. Er hielt sich das kalte Glas an die Nase. »Ich habe dich mit der Hand geschlagen, mit der flachen Hand, und du schlägst mir mit der Faust ins Gesicht. Verdammt noch mal!«
    »Marion hat gesagt, dann würdest du aufhören«, erklärte ihm Eddie.
    »›Marion hat gesagt‹«, äffte Ted ihn nach. »Zum Teufel, was hat sie sonst noch gesagt?«
    »Genau das versuchte ich ja loszuwerden«, entgegnete Eddie. »Sie sagte, du brauchst dir nicht zu merken, was ich sage, weil dir ihr Anwalt alles noch mal erzählen wird.«
    »Wenn sie sich einbildet, daß sie auch nur einen Mäusezipfel von einer Chance hat, das Sorgerecht für Ruth zu bekommen, kann sie sich auf was gefaßt machen!« schrie Ted.
    »Sie rechnet nicht damit, das Sorgerecht für Ruth zu bekommen«, erläuterte Eddie. »Sie hat gar nicht die Absicht, es zu versuchen.«
    »Und das hat sie dir gesagt?«
    »Sie hat mir alles gesagt, was ich dir sage«, erwiderte Eddie.
    »Was ist das bloß für eine Mutter, die nicht mal versucht, das Sorgerecht für ihr Kind zu bekommen?« brüllte Ted.
    »Das hat sie mir nicht gesagt«, räumte Eddie ein.
    »Herrgott noch mal …«
    »Die Sache mit dem Sorgerecht hat nur einen Haken«, fuhr Eddie unbeirrt fort. »Du mußt deinen Alkoholkonsum einschränken. Wenn du noch mal wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt wirst, könnte dich das das Sorgerecht kosten. Marion möchte sich darauf verlassen können, daß Ruth in Sicherheit ist, wenn sie mit dir fährt …«
    »Sie hat es gerade nötig, zu behaupten, daß Ruth bei mir nicht sicher ist!« brüllte Ted.
    »Ich bin überzeugt, ihr Anwalt wird es dir erklären«, sagte Eddie.

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