Witwe für ein Jahr (German Edition)
vorging, gefiel ihm gar nicht; zugleich mit seiner neuen Autorität, mit der Entdeckung seiner Stimme, hatte er Geschmack an einer gewissen Grausamkeit gefunden, zu der er bislang nicht fähig war.
»Ich bin dir moralisch überlegen, Eddie, soviel steht fest«, erklärte ihm das Kindermädchen.
»Moralisch überlegen«, wiederholte Ted. »Also, das ist ein interessanter Aspekt! Fühlst du dich anderen denn nie ›moralisch überlegen‹, Eddie?«
»Dir schon«, entgegnete der Junge.
»Siehst du, Alice?« sagte Ted. »Jeder fühlt sich irgend jemandem ›moralisch überlegen‹!« Eddie hatte nicht gemerkt, daß Ted bereits betrunken war.
Alice verließ weinend das Haus. Eddie und Ted sahen sie wegfahren.
»Da geht sie dahin, meine Fahrgelegenheit zur Fähre«, stellte Eddie fest.
»Ich möchte trotzdem, daß du morgen von hier verschwindest«, erklärte Ted.
»Gut«, sagte Eddie. »Aber ich kann nicht zu Fuß nach Orient Point laufen. Und du kannst mich nicht hinfahren.«
»Du bist doch ein kluger Junge, dir wird schon jemand einfallen, der dich fährt.«
»Du bist doch der Meister im Auftun von Fahrgelegenheiten«, entgegnete Eddie. Sie hätten sich noch den ganzen Abend Freundlichkeiten an den Kopf werfen können, dabei war es draußen noch nicht einmal dunkel. Für Ruth war es viel zu früh, um zu schlafen. Ted überlegte laut, ob er sie aufwecken und dazu bringen sollte, noch etwas zu essen. Doch als er auf Zehenspitzen in ihr Zimmer ging, stand sie vor ihrer Staffelei; entweder war sie aufgewacht, oder sie hatte sich nur schlafend gestellt.
Für eine Vierjährige zeichnete Ruth bemerkenswert gut. Ob das Ausdruck ihres Talents oder die eher bescheidene Folge dessen war, daß ihr Vater ihr gezeigt hatte, wie man bestimmte Dinge zeichnet – Gesichter vor allem –, ließ sich jetzt noch nicht sagen. Fest stand, daß sie Gesichter zeichnen konnte. Eigentlich zeichnete sie überhaupt nur Gesichter. (Als Erwachsene zeichnete sie gar nicht mehr.)
Doch nun zeichnete Ruth für sie ungewöhnliche Dinge: Strichmännchen, plump und formlos, wie andere Vierjährige (die sonst nie einen Stift in die Hand nehmen) sie hinkritzeln mochten. Es waren drei solche Männchen, alles andere als gut gezeichnet, mit gesichtslosen, ovalen Köpfen, die so kahl waren wie Melonen. Über ihnen, oder vielleicht auch dahinter – die Perspektive war nicht klar erkennbar –, erhoben sich mehrere große Hügel, die wie Berge aussahen. Aber Ruth war ein Kind, das nur Kartoffelfelder und Meer kannte; wo sie aufgewachsen war, war es überall flach.
»Sind das Berge, Ruthie?« fragte Ted.
»Nein!« schrie sie. Sie verlangte, daß auch Eddie kam und sich ihre Zeichnung ansah. Ted rief ihn her.
»Sind das Berge?« fragte Eddie, als er die Zeichnung sah.
»Nein! Nein! Nein!« heulte Ruth.
»Ruthie, Schätzchen, so wein doch nicht.« Ted zeigte auf die gesichtslosen Strichmännchen. »Wer ist das denn, Ruthie?«
»Gesterbte Leute«, erklärte Ruth.
»Du meinst, tote Menschen, Ruthie?«
»Ja, gesterbte Leute«, wiederholte sie.
»Verstehe, es sind Skelette«, sagte ihr Vater.
»Wo sind ihre Gesichter?« fragte Eddie.
»Gesterbte Leute haben keine Gesichter«, sagte Ruth.
»Warum nicht, Schätzchen?« fragte Ted.
»Weil sie vergraben sind, sie sind unter der Erde.«
Ted deutete auf die Erhebungen, die keine Berge waren. »Dann sind das Erdhügel, habe ich recht?«
»Stimmt«, sagte Ruth. »Und die gesterbten Leute liegen drunter.«
»Verstehe«, sagte Ted.
Ruth zeigte auf das mittlere Strichmännchen mit dem Melonenkopf und sagte: »Das da ist Mummy.«
»Aber deine Mummy ist nicht tot, Herzchen«, sagte Ted. »Mummy ist nicht gestorben.«
»Und das ist Thomas, und das ist Timothy«, fuhr Ruth fort, wobei sie auf die anderen Skelette deutete.
»Mummy ist nicht tot, Ruthie, sie ist nur fortgegangen.«
»Das da ist Mummy«, wiederholte Ruth und deutete noch einmal auf das Männchen in der Mitte.
»Wie wäre es mit einem überbackenen Käsesandwich und Pommes frites?« fragte Eddie.
»Und Ketchup«, sagte Ruth.
»Gute Idee, Eddie«, meinte Ted.
Die Pommes frites waren gefroren, das Backrohr mußte vorgeheizt werden, und Ted war zu betrunken, um seine Lieblingsbratpfanne zum Überbacken der Käsesandwiches zu finden; doch irgendwie schafften es alle drei, die erbärmliche Mahlzeit zu essen. Der Ketchup half ihnen dabei. Eddie spülte ab, während Ted versuchte, Ruth ins Bett zu bringen. Unter den gegebenen Umständen ist
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