Witwe für ein Jahr (German Edition)
Er hat gesagt, ich werde meine Narbe immer behalten.«
»Wie schön, Ruthie.« Ted sah zu, wie Eddie die Strandtasche aus dem Chevy holte. Obenauf lagen die Briefpapierbögen aus dem Rahmengeschäft in Southampton, die Zusammenfassung der Ereignisse des Sommers 1958, die Eddie für Penny Pierce niedergeschrieben hatte. Der Anblick dieser Seiten brachte Eddie auf eine Idee. Er ging an den Kofferraum und holte das neu gerahmte Foto heraus. Inzwischen verfolgte Ted jede seiner Bewegungen mit wachsendem Unbehagen.
»Wie ich sehe, ist das Bild endlich fertig«, bemerkte Ted.
»Wir haben die Füße zurückbekommen, Daddy! Das Bild ist wieder ganz heil«, sagte Ruth.
Ted nahm seine Tochter auf den Arm und küßte sie auf die Stirn. »Du hast Sand in den Haaren, und das Salzwasser muß ausgespült werden. Du gehörst in die Badewanne, Ruthie.«
»Aber ohne Shampoo!« rief Ruth.
»Ach, komm, Ruthie, Shampoo brauchst du schon auch.«
»Ich mag kein Shampoo, da muß ich immer weinen!« rief Ruth.
»Na ja«, sagte Ted abschließend, wie üblich. Er konnte den Blick nicht von Eddie abwenden. »Ich habe heute vormittag ziemlich lange auf dich gewartet«, sagte er schließlich. »Wo hast du gesteckt?«
Eddie hielt ihm die Seiten hin, die er für Mrs. Pierce geschrieben hatte. »Die Dame im Rahmengeschäft hat mich gebeten, das hier zu schreiben«, begann er. »Ich sollte ihr erklären, und zwar schriftlich, weshalb ich mich geweigert habe, ihren Laden ohne das Foto zu verlassen.«
Ohne die Briefbögen zu nehmen, setzte Ted Ruth ab und sah fragend auf das Haus. »Wo ist Alice?« wollte er wissen. »Alice ist doch die, die immer am Nachmittag kommt, oder? Wo ist das Kindermädchen? Und wo ist Marion?«
»Ich werde Ruth jetzt baden«, gab der Sechzehnjährige zur Antwort. Noch einmal hielt er Ted die Seiten hin. »Du solltest das lieber lesen.«
»Antworte mir, Eddie.«
»Lies das erst«, sagte Eddie. Er nahm Ruth auf den Arm und ging mit ihr auf die Haustür zu. Über seiner Schulter hing die Strandtasche, auf einem Arm trug er Ruth, und in der freien Hand hielt er das Foto von Marion und den Füßen.
»Du hast Ruth noch nie gebadet«, rief Ted ihm nach. »Du weißt gar nicht, wie das geht!«
»Ich kann es mir denken. Ruth kann es mir sagen«, rief Eddie zurück. »Lies das«, wiederholte er.
»Ja, schon gut«, sagte Ted. Dann begann er, laut zu lesen: »›Haben Sie Marion Coles Bild vor Augen?‹ He! Was soll das?«
»Es ist das einzig Brauchbare, was ich den ganzen Sommer über geschrieben habe«, antwortete Eddie, während er Ruth ins Haus trug. Dort überlegte er, wie er Ruth in die Badewanne kriegen konnte – in welche, war egal –, ohne daß sie merkte, daß die Fotos ihrer toten Brüder verschwunden waren.
Das Telefon klingelte. Hoffentlich ist es Alice, dachte Eddie. Mit Ruth auf dem Arm ging er an den Apparat in der Küche. Dort hatten nie mehr als drei oder vier Fotos von Thomas und Timothy gehangen, und Eddie hoffte, Ruth würde nicht gleich merken, daß sie verschwunden waren. Als das Telefon klingelte, war Eddie mit Ruth auf dem Arm durch die Diele gelaufen. Vielleicht hatte sie die helleren Rechtecke an den Stellen, an denen die Tapete nicht nachgedunkelt war, gar nicht bemerkt; und auch die Bilderhaken nicht, die Marion an den kahlen Wänden zurückgelassen hatte.
Es war tatsächlich Alice. Eddie bat sie, sofort herzukommen. Dann legte er Ruth über seine Schulter, hielt sie gut fest und lief mit ihr die Treppe hinauf. »Wir machen ein Rennen zur Badewanne!« sagte er. »In welche Badewanne möchtest du denn? Die von Mummy und Daddy, meine Badewanne oder eine andere …«
»Deine Badewanne!« kreischte Ruth.
Oben bog er mit Schwung in den langen Gang ein, wo er erstaunt feststellte, wie sehr die Bilderhaken an den leeren Wänden auffielen. Einige waren schwarz, andere gold- oder silberfarben. Und alle sahen irgendwie häßlich aus. Es war, als wäre das Haus von Scharen kleiner Metallkäfer heimgesucht worden.
»Hast du das gesehen?« fragte Ruth.
Aber Eddie trug sie, noch immer im Laufschritt, in sein Schlafzimmer am Ende des Flurs und von dort aus in sein Bad, wo er das Foto von Marion im Hˆotel du Quai Voltaire genau an die Stelle hängte, wo es zu Beginn des Sommers gehangen hatte.
Eddie ließ Wasser in die Wanne einlaufen und half unterdessen Ruth beim Ausziehen, was ziemlich mühsam war, weil Ruth ständig den Kopf hin und her drehte und die Wände betrachtete, während Eddie ihr das
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