Witwe für ein Jahr (German Edition)
besserging.
Nachdem er sich angezogen hatte, wollte er die Seiten, die er geschrieben hatte, in seinen leeren Matchsack stecken. Bald würde er packen, und er wollte das Geschriebene auf keinen Fall vergessen. Doch zu seiner Überraschung stellte er fest, daß der Matchsack nicht leer war. Er enthielt Marions hellrosa Kaschmirjacke; außerdem ihr veilchenfarbenes Seidenhemdchen mit dem dazu passenden Höschen, obwohl sie damals angemerkt hatte, daß sich Rosa und Violett nicht gut vertragen. Sie wußte, daß Eddie vor allem das Dekolleté (und die Spitze) reizvoll gefunden hatte.
In der Hoffnung, noch mehr zu finden, durchwühlte Eddie den Matchsack; vielleicht hatte Marion ihm einen Brief geschrieben. Was er noch entdeckte, erstaunte ihn ebenso wie sein erster Fund. Es war das wie ein Laib Brot geformte, verdrückte Geschenk, das sein Vater ihm gegeben hatte, als er an Bord der Fähre nach Long Island gegangen war; es war das in Geschenkpapier eingewickelte Mitbringsel für Ruth, das nach dem wochenlangen Aufenthalt unten im Matchsack ziemlich mitgenommen aussah. Eddie hielt den Zeitpunkt nicht für günstig, um Ruth das Geschenk zu geben, egal, was es war.
Plötzlich fiel ihm eine sinnvollere Verwendung für die Seiten ein, die er für Penny Pierce geschrieben und dann Ted gezeigt hatte. Wenn Alice eintraf, waren sie bestimmt nützlich, um sie über die Situation aufzuklären; denn natürlich mußte sie Bescheid wissen, wenn sie sensibel auf alles reagieren sollte, was Ruth empfinden mochte. Eddie faltete die Seiten zusammen und steckte sie in seine rechte Gesäßtasche. Seine Jeans war noch leicht feucht, weil er sie über die nasse Badehose gezogen hatte, als er mit Ruth den Strand verlassen hatte. Der Zehndollarschein, den Marion ihm gegeben hatte, war ebenfalls etwas feucht, desgleichen Penny Pierces Visitenkarte, auf die sie ihre private Telefonnummer geschrieben hatte. Er steckte beides in den Matchsack; beides gehörte schon jetzt zu den Andenken an den Sommer 1958, der, wie Eddie allmählich erkannte, nicht nur einen Wendepunkt in seinem Leben darstellte, sondern auch für Ruth ein Vermächtnis war, das sie so lange mit sich herumtragen würde wie ihre Narbe.
Das arme Kind, dachte Eddie, ohne zu merken, daß er sich auch hier an einem Wendepunkt befand. Mit seinen sechzehn Jahren hatte Eddie O’Hare insofern aufgehört, ein Teenager zu sein, als er nicht mehr nur mit sich selbst beschäftigt war, sondern sich auch Gedanken um andere machte. Er nahm sich fest vor, alles, was er an diesem heutigen Tag und Abend noch tun und sagen würde, für Ruth zu tun und zu sagen. Er ging in ihr Zimmer, wo Ted das Foto von Marion und den Füßen an einen der vielen leeren Bilderhaken an den kahlen Wänden gehängt hatte.
»Schau, Eddie!« sagte das Kind und deutete auf das Foto mit ihrer Mutter.
»Ich sehe es«, sagte Eddie. »Es paßt sehr gut hierher.«
Von unten rief eine Frauenstimme herauf. »Hallo! Hallo?«
»Mummy!« schrie Ruth.
»Marion?« rief Ted.
»Das ist Alice«, sagte Eddie.
Eddie hielt das Kindermädchen auf halber Treppe auf. »Es ist etwas geschehen, worüber du Bescheid wissen solltest, Alice«, erklärte er ihr und drückte ihr die beschriebenen Seiten in die Hand. »Du solltest das hier lieber lesen.«
Tja, die Autorität des geschriebenen Wortes.
Ein Kind ohne Mutter
Ein vierjähriges Kind hat eine begrenzte Vorstellung von Zeit. Aus Ruths Sicht war nur klar, daß ihre Mutter und die Fotos ihrer toten Brüder fort waren. Bald würde sie anfangen zu fragen, wann ihre Mutter und die Fotos wieder zurückkommen würden.
Marions Abwesenheit hatte etwas Endgültiges an sich, das selbst für ein vierjähriges Kind deutlich spürbar war. Sogar das Licht des Spätnachmittags, das an der Küste länger vorhält als anderswo, schien an jenem Freitagnachmittag länger als üblich zu verweilen; es war, als wollte es überhaupt nicht Nacht werden. Und die Bilderhaken, ganz zu schweigen von den hellen Rechtecken, die sich von den nachgedunkelten Tapeten abhoben, verstärkten noch den Eindruck, daß die Fotos für immer verschwunden waren.
Hätte Marion die Wände völlig kahl hinterlassen, wäre es besser gewesen. Die Bilderhaken waren wie der Stadtplan von einer geliebten Stadt, die zerstört worden ist. Immerhin hatten die Fotografien von Thomas und Timothy den Hintergrund für die wichtigsten Geschichten in Ruths Leben gebildet – bis hin zu ihrer ersten Begegnung mit der Maus, die in der Wand
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