Witwe für ein Jahr (German Edition)
T-Shirt auszuziehen versuchte. Bis auf das Foto von Marion in Paris waren die Wände kahl. Alle anderen Fotos waren verschwunden. Die Anzahl der leeren Bilderhaken schien viel größer, als sie tatsächlich war. Eddie kam es vor, als krabbelten die käferartigen Haken an den Wänden herum.
»Wo sind die anderen Bilder?« fragte Ruth, als Eddie sie in die Wanne hob, die sich allmählich füllte.
»Vielleicht hat deine Mummy sie umgehängt«, sagte Eddie. »Schau dich nur an, du hast Sand zwischen den Zehen und in den Haaren und in den Ohren!«
»Und in meinem Schlitz, da kommt er auch immer rein«, bemerkte Ruth.
»Ja, freilich …«, sagte Eddie. »Wirklich höchste Zeit für ein Bad!«
»Kein Shampoo«, verlangte Ruth beharrlich.
»Aber du hast Sand in den Haaren«, wandte Eddie ein. Die Badewanne hatte die in Europa üblichen Armaturen: einen Duschschlauch, mit dem Eddie den Kopf des Kindes naß sprühte.
»Kein Shampoo!« kreischte Ruth.
»Nur ein bißchen Shampoo«, versuchte Eddie sie zu überreden. »Mach einfach die Augen zu.«
»Es kommt auch in die Ohren!« heulte Ruth.
»Ich dachte, du bist tapfer. Bist du denn nicht tapfer?« fragte Eddie. Sobald die Haare gewaschen waren, hörte Ruth zu heulen auf. Eddie ließ sie mit dem Schlauch spielen, bis sie ihn naß spritzte.
»Wohin hat Mummy die Bilder getan?« fragte Ruth.
»Ich weiß es nicht«, gab Eddie zu. (Bis zum Abend wurde diese Antwort zu einem ständig wiederkehrenden Refrain.)
»Hat Mummy auch die Bilder aus dem Gang weggetan?«
»Ja, Ruth.«
»Und warum?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte Eddie.
Sie zeigte auf die Wände und sagte: »Aber diese Dinger hat Mummy nicht weggetan. Wie heißen die denn?«
»Bilderhaken«, sagte Eddie.
»Warum hat Mummy sie nicht weggetan?« wollte Ruth wissen.
»Ich weiß es nicht«, wiederholte Eddie. Während das Wasser ablief, stand das Kind in der Badewanne, die voller Sand war. Sobald Eddie es auf die Badematte hob, begann es zu zittern.
Während er Ruth abtrocknete, überlegte er, wie er es anstellen sollte, ihre Haare auszukämmen; sie waren lang und voller Nester. Doch dann ließ er sich dadurch ablenken, daß er sich Wort für Wort ins Gedächtnis zu rufen versuchte, was er für Penny Pierce niedergeschrieben hatte; und er versuchte sich auszumalen, wie Ted auf bestimmte Sätze reagieren würde. Zum Beispiel: »Ich würde schätzen, daß Marion und ich uns in diesem Sommer ungefähr sechzigmal geliebt haben.« Und auf diesen Satz folgten noch andere Sätze: »Wenn Ruth nach Hause kommt, ist ihre Mutter verschwunden und mit ihr sämtliche Fotos. Dann sind alle weg, ihre toten Brüder und ihre Mutter.«
Als Eddie sich seinen Schlußsatz wortwörtlich in Erinnerung rief, fragte er sich, ob Ted die Untertreibung wohl zu würdigen wußte. »Ich dachte mir nur, daß die Kleine heute abend wahrscheinlich dringend etwas braucht, was sie neben ihr Bett stellen kann«, hatte Eddie geschrieben. »Alle anderen Bilder sind fort, alle Fotos, die ihr so vertraut sind. Deshalb dachte ich, sie sollte wenigstens ein Bild von ihrer Mutter haben.«
Eddie hatte Ruth schon in ein Handtuch gewickelt, bevor er bemerkte, daß Ted in der Badezimmertür stand. Eddie hob das Kind hoch und übergab es seinem Vater, während Ted Eddie die beschriebenen Briefbögen zurückgab – ein wortloser Austausch.
»Daddy! Daddy!« rief Ruth. »Mummy hat alle Fotos weggetan! Aber nicht die … wie heißen die?« fragte sie Eddie.
»Die Bilderhaken.«
»Genau«, sagte Ruth. »Warum hat sie das getan?« fragte sie ihren Vater.
»Ich weiß es nicht, Ruthie.«
»Ich gehe mal kurz duschen«, teilte Eddie Ted mit.
»Gut, aber beeil dich«, sagte Ted. Er trug seine Tochter hinaus auf den Flur.
»Schau mal, die vielen … wie heißen die?« fragte Ruth ihren Vater.
»Bilderhaken, Ruthie.«
Erst nachdem Eddie geduscht hatte, bemerkte er, daß Ted das Foto von Marion abgenommen hatte; bestimmt hatten sie es in Ruths Zimmer gebracht. Für Eddie war es faszinierend, festzustellen, daß das, was er geschrieben hatte, jetzt eintrat. Er wollte mit Ted allein sein, um ihm alles zu sagen, was Marion ihm aufgetragen hatte – und alles, was er von sich aus hinzuzufügen hatte. Er wollte Ted mit so vielen bitteren Wahrheiten verletzen wie nur irgend möglich. Doch gleichzeitig wollte er Ruth belügen. Siebenunddreißig Jahre lang sollte er das Bedürfnis haben, sie zu belügen, ihr irgend etwas zu erzählen, nur damit es ihr
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