Wo bist du
noch da war. Philip schlenderte durch den Park des Gymnasiums, blickte sich immer wieder um, grüßte zerstreut die Leute, die er traf, aber ... Susan war nirgendwo. Schließlich versuchte er sich einzureden, dass er sich getäuscht hatte, betete sogar insgeheim, dass es so sei. Um siebzehn Uhr gingen sie alle vier zum Parkplatz. Als er sich dem Wagen näherte, sah er ein einfaches Stück Papier, das in der Fahrertür klemmte, ein weißer, vierfach gefalteter Zettel. Nur wenige Zeilen, die ihm schon jetzt, obwohl er noch zögerte, sie zu lesen, den Atem nahmen. Die ganze Rückfahrt über hielt er das Geheimnis in seiner Hand verborgen, Mary sagte kein Wort. Als er vor dem Haus parkte, gab er vor, noch etwas aus dem Kofferraum holen zu müssen, und ließ die Familie hineingehen.
Er entfaltete das kleine Stück Papier, auf dem lediglich eine Zahl und zwei Buchstaben standen: 7a.m. Er schob es in die Tasche und ging ins Haus.
Während des Abendessens fragte sich Lisa nach dem Grund für das Schweigen, das nur bisweilen durch ein paar knappe, gezwungene Sätze von Mary unterbrochen wurde. Das Dessert stand noch nicht auf dem Tisch, als Thomas erklärte, angesichts dieser »fröhlichen Stimmung« gehe er lieber in sein Zimmer. Lisa sah von Philip zu Mary.
»Was macht ihr beide denn für Trauermienen, habt ihr euch gestritten?«
»Nicht im Geringsten«, versicherte Mary, »dein Vater ist müde, das ist alles, man kann schließlich nicht immer in Hochform sein.«
»Eine tolle Stimmung am Vorabend meiner Abreise«, fuhr Lisa fort, »gut, ich lasse euch, ich packe jetzt meine Tasche, nachher gehe ich noch auf eine Party bei Cindy.«
»Dein Flugzeug geht erst um sechs Uhr abends, du kannst auch morgen packen, deine Sachen verknittern nur«, erwiderte Philip. »Knitterfalten sind in, die akkurat gebügelten Sachen überlasse ich euch, und jetzt gehe ich.«
Sie lief die Treppe hinauf zum Zimmer ihres Bruders. »Was haben die bloß?«
»Rate mal! Weil du morgen wegfährst, natürlich, seit einer Woche läuft Mum im Haus auf und ab. Vorgestern war sie mindestens fünf Mal in deinem Zimmer, mal zupfte sie an den Gardinen herum, dann stellte sie Bücher auf deinem Regal um, beim nächsten Mal strich sie das Bett glatt. Als ich auf dem Flur vorbeikam, habe ich sie überrascht, wie sie das Kopfkissen im Arm hatte und ihr Gesicht hineindrückte!«
»Aber ich fahre doch nur zwei Monate nach Kanada, was wird erst passieren, wenn ich irgendwann allein wohne!«
»An dem Tag, an dem du gehst, bin vor allem ich allein, und diesen Sommer wirst du mir auch fehlen.« »Aber ich schreibe dir doch, mein Zuckerhäschen, und nächstes Jahr meldest du dich in meinem Ferienlager an, dann sind wir zusammen.« »Um dich als Betreuerin zu haben, nein danke! Los, pack deinen Koffer, du treulose Tomate.«
Seit gut fünf Minuten trocknete Philip denselben Teller ab. Während Mary den Tisch fertig abräumte, beobachtete sie ihn. Sie zog in ihrer unnachahmlichen Art eine Augenbraue hoch. Er reagierte nicht. »Philip, möchtest du, dass wir reden?«
Er fuhr zusammen:
»Mach dir doch keine Sorgen. In Kanada wird alles gut für sie laufen.«
»Davon spreche ich gar nicht, Philip.«
»Von was dann?«
»Von dem, was dich seit der Feier in diesen Zustand versetzt.« Er stellte den Teller auf das Ablaufbrett, trat zu ihr und bat sie, sich zu setzen.
»Mary, da ist etwas, was ich dir sagen möchte, was ich dir schon lange hätte sagen sollen.«
Sie musterte ihn beunruhigt.
»Pass auf mit deinen überwältigenden Enthüllungen! Was willst du mir sagen?«
Er sah ihr in die Augen und streichelte ihr Gesicht. Sie spürte die Rührung in seinem Blick, und weil er schwieg, so als würden die Worte, die er sagen wollte, in seiner Kehle erstickt, wiederholte sie ihre Frage: »Was willst du mir sagen?«
»Mary, seit dem Tag, als Lisa in unser Leben getreten ist, habe ich jeden Morgen beim Aufstehen, bei jedem deiner Atemzüge, wenn ich dich schlafen sah, jedes Mal, wenn dein Blick den meinen traf, jedes Mal, wenn deine Hand wie jetzt in der meinen lag, begriffen, warum und wie sehr ich dich liebe. Und mit all der Kraft, die du mir gegeben hast mit deinen Kämpfen, deinem Lächeln, mit all deinen Zweifeln, die du überwunden hast, und den meinen, die du durch dein Vertrauen weggewischt hast, mit deiner Anteilnahme, deiner Geduld und mit all den Tagen, die wir gemeinsam verbracht haben, hast du mir das schönste Geschenk der Welt gemacht: Wie viele Männer
Weitere Kostenlose Bücher