Wo bist du
näher Lisas Abiturfeier rückte, desto unruhiger wurde Mary. Die Erinnerung an einen Schwur, den sie vor fünf Jahren an einem Tisch in der Flughafenbar geleistet hatte, störte ihren Schlaf, selbst wenn nichts am Verhalten ihrer Tochter darauf hindeutete, dass sie ihr Versprechen halten müsste.
Thomas erschien als Letzter am Frühstückstisch. Lisa hatte ihre Pfannkuchen gegessen, und Mary räumte in aller Eile die Küche auf. Philip hupte mehrmals kurz, um alle zum Auto zu rufen. Als der letzte Sicherheitsgurt einrastete, war der Motor bereits angesprungen. Der Weg zur Schule dauerte nur knapp zehn Minuten, und Mary verstand diese Ungeduld nicht recht. Unterwegs sah er immer wieder in den Rückspiegel, und sein Blick traf den von Lisa. Mary versuchte, sich auf das Programm der Feier zu konzentrieren, gab jedoch bald auf, da ihr übel wurde, wenn sie beim Fahren las. Sobald sie den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatten, begrüßten sie die Lehrer. Philip war übernervös. Ehe Lisa zu ihren Kameradinnen ging, beruhigte Mary sie, denn Philip war vor jeder offiziellen Feier so. Er drängte Mary und Thomas, vor dem Podium Platz zu nehmen, auf dem die Zeugnisse überreicht werden sollten. Mary zog eine Augenbraue hoch und pochte mit dem Finger auf ihre Armbanduhr. Die Zeremonie begann erst in einer Stunde, es bestand also kein Grund zur Eile, und sie wollte die Zeit nutzen, um im Park spazieren zu gehen.
Als sie zurückkam, saß Philip schon in der ersten Reihe, auf die beiden Stühle neben sich hatte er jeweils einen Schuh gelegt. Als Mary sich setzte, gab sie ihm seinen Mokassin zurück.
»Beim Freihalten der Plätze bist du wirklich sehr einfallsreich! Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Zeremonien machen mich nervös, das ist alles.«
»Aber sie hat ihr Abitur schon bestanden, Philip! Vorher, als wir für die Prüfungen gelernt haben, hättest du nervös sein müssen.«
»Ich verstehe nicht, wie du so ruhig bleiben kannst! Sieh doch, sie ist schon auf dem Podium, gleich hält sie ihre Ansprache!«
»... die wir einen Monat lang einstudiert haben, ich bitte dich, du wirst doch nicht die ganze Zeit über so rumzappeln.«
»Aber ich zapple doch gar nicht!«
»Doch, und dein Stuhl knarrt. Wenn du hören willst, was deine Tochter sagt, dann verhalte dich etwas ruhiger.« Thomas unterbrach sie, denn nach dem Mädchen, das jetzt sprach, kam Lisa an die Reihe. Philip war natürlich angespannt, aber er war vor allem stolz. Er drehte sich um, um abzuschätzen, wie viele Personen der Feier beiwohnten. Es waren zwölf Reihen mit jeweils dreißig Plätzen, das heißt dreihundertsechzig Zuschauer.
War es irgendetwas Unbestimmtes, das seine Aufmerksamkeit anzog, oder einfach sein Instinkt, der ihn veranlasste, sich noch einmal umzuwenden? Ganz hinten in der letzten Reihe hatte eine Frau ihren Blick auf Lisa gerichtet, die jetzt ans Rednerpult trat.
Weder die Sonnenbrille, die sie trug, noch das Cape, in das sie gehüllt war, und auch nicht die Spuren, die die Zeit auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte, hinderten ihn daran, Susan zu erkennen.
Mary kniff ihn ins Bein: »Wenn du sehen willst, wie man deiner Tochter das Reifezeugnis überreicht, musst du dich schon umdrehen.« Während Lisa ihre Lehrer begrüßte, begann Philips linke Hand, die ganz feucht geworden war, zu zittern. Mary ergriff sie und drückte sie fest. Als Lisa feierlich ihren Eltern für ihre Liebe und Geduld dankte, verspürte Mary den dringenden Wunsch nach Pfannkuchen.
Sie wischte sich schnell über die Augen, um die Tränen der Rührung zu vertreiben, die in ihr aufstiegen, und ließ dabei Philips Hand los. »Was hast du?«, fragte sie ihn.
»Ich bin gerührt.«
»Glaubst du, dass wir ihr gute Eltern waren?«, fragte sie leise. Er holte tief Luft und konnte nicht umhin, sich noch einmal umzublicken. Dort, wo er geglaubt hatte, Susan zu entdecken, stand ein leerer Stuhl. Er ließ den Blick über die restlichen Sitzreihen gleiten, doch er konnte sie nirgendwo entdecken. Mary machte ihn auf Lisa aufmerksam, die sich unter dem Beifall des Publikums verabschiedete, also applaudierte auch er, so laut er konnte.
Den ganzen Nachmittag über lag er auf der Lauer. Mary fragte ihn immer wieder, was er suche, und ständig antwortete er ihr, er fühle sich nicht gut, sicherlich die Nachwirkungen all der Aufregung. Er entschuldigte sich, und sie merkte, dass es besser war, ihn allein zu lassen und sich um Thomas zu kümmern und um Lisa, solange sie
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