Wo die Nacht beginnt
Teller.
Bevor wir uns zu unserem abendlichen Gänsebraten niederließen, zeigte mir Matthew unser Schlafzimmer und seine Schreibstube. Beide befanden sich dem Salon gegenüber auf der anderen Seite der Eingangshalle. Mehrere Fenster mit Spitzgiebeln gingen auf den Hof und ließen beide Räume hell und überraschend luftig wirken. Im Schlafzimmer gab es genau drei Möbel: ein Himmelbett mit schwerem Holzbaldachin und Schnitzereien am Kopfende, einen hohen Wäscheschrank mit getäfelten Seiten und Türen und schließlich eine lange, niedrige Truhe unter dem Fenster. Letztere war verschlossen, und Matthew erklärte mir, dass darin seine Rüstung und verschiedene Ersatzwaffen lagen. Henry und Françoise hatten auch diese Zimmer dekoriert. An den Bettpfosten rankte sich Efeu in die Höhe, und an das Kopfende hatten sie Stechpalmenzweige gebunden.
Während das Schlafzimmer kaum bewohnt wirkte, wurde Matthews Schreibstube offenkundig intensiv genutzt. Hier gab es Körbe mit Papier, Taschen und Halter voller Federkiele, außerdem Tintenfässer, genug Wachs für ein Dutzend Kerzen, Garnrollen und so viel unerledigte Post, dass ich bei ihrem bloßen Anblick müde wurde. Vor einem ausziehbaren Tisch stand ein gemütlich aussehender Sessel mit gerundetem Rücken und geschwungenen Armlehnen. Bis auf die schweren Tischbeine mit ihren bauchigen, kelchförmigen Schnitzereien war alles schlicht und praktisch gehalten.
Ich war zwar beim Anblick der Stapel an Arbeit, die Matthew erwarteten, erbleicht, doch ihn schienen sie nicht zu stören. »Das kann alles warten. Zu Weihnachten lassen sogar die Spione ihre Geschäfte ruhen«, erklärte er mir.
Beim Essen unterhielten wir uns vor allem über Walters jüngste Großtaten und über den mörderischen Verkehr in London, während wir unerfreuliche Themen wie Kits letzte Sauftouren und William Shakespeares Geschäftssinn mieden. Nachdem die Teller abgeräumt waren, zog Matthew einen kleinen Spieltisch von der Wand weg. Er holte ein Kartenspiel aus der Schublade unter der Tischplatte und gab mir Unterricht in elisabethanischen Kartenspielen. Henry hatte Matthew und Gallowglass eben überredet, Klatschdrachen zu spielen – ein gefährliches Spiel, bei dem unter anderem Rosinen in einer Untertasse voller Brandy angezündet und Wetten darauf abgegeben wurden, wer die meisten davon verschlucken konnte –, als auf der Straße Weihnachtssänger zu hören waren. Leider sangen nicht alle in derselben Tonlage, aber zum Ausgleich warfen diejenigen, die den Text nicht kannten, skandalöse Details aus dem Privatleben von Joseph und Maria ein.
»Hier, Milord«, sagte Pierre und streckte Matthew einen Beutel mit Münzen entgegen.
»Haben wir auch Kuchen?«, fragte Matthew Françoise.
Sie sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Natürlich haben wir Kuchen. Sie liegen in dem neuen Vorratsschrank draußen an der Treppe, wo der Geruch weniger stört«, erklärte Françoise und deutete zur Treppe. »Letztes Jahr gabt Ihr ihnen Wein, aber ich glaube, den brauchen sie heute Abend nicht mehr.«
»Ich komme mit, Matt«, erklärte sich Henry bereit. »An Heiligabend höre ich zu gern ein paar schöne Lieder.«
Als Matthew und Henry unten vor der Tür auftauchten, schwoll der Chor postwendend um ein paar Dezibel an. Nachdem die Sänger zu einem in jeder Hinsicht wackligen Ende gelangt waren, dankte Matthew ihnen und teilte Münzen aus. Henry verteilte die Kuchen, die mit vielen Verbeugungen und einem gedämpften »Untertänigsten Dank, Milord« entgegengenommen wurden, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass dies der Earl of Northumberland war. Anschließend zogen die Sänger weiter zum nächsten Haus, einer festen, nur ihnen bekannten Route folgend, die ihnen hoffentlich die leckersten Erfrischungen und den größten Ertrag einbringen würde.
Bald konnte ich mein Gähnen nicht länger unterdrücken, und Henry und Gallowglass begannen, Mäntel und Handschuhe einzusammeln. Auf dem Weg zur Tür strahlten beide wie zwei zufriedene Kuppler. Matthew legte sich zu mir ins Bett, hielt mich in den Armen, summte mir Weihnachtslieder vor und benannte mir beim Stundenschlag die zahllosen Glocken.
»Das ist St. Mary-le-Bow«, erklärte er lauschend. »Und jetzt kommt St. Katherine Cree.«
»Ist das St. Paul’s?«, fragte ich, als ein helles Läuten durchs Fenster drang.
»Nein. Als die Blitze den Kirchturm in Brand setzten, schmolzen auch die Glocken«, antwortete er. »Das ist St. Saviour’s. Wir
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