Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
Vom Netzwerk:
gegeben.«
    »Genauso wenig wie die Königin.« Matthew konzentrierte sich auf die Werften am Flussufer, und seine Rechte ruhte fest auf dem Heft seines Schwertes.
    Ich hatte nicht geahnt, dass die alte Kathedrale so groß gewesen war. Wieder einmal kniff ich mich verstohlen. Mit dem Kneifen angefangen hatte ich, als ich erstmals den Tower (der ohne die ihn umgebenden Wolkenkratzer ebenfalls riesengroß aussah) und die London Bridge (die als schwebendes Einkaufszentrum fungierte) erblickt hatte. Seit unserer Ankunft in der Vergangenheit hatte mich schon manches beeindruckt, aber nichts war so atemberaubend wie die ersten Blicke auf London.
    »Und du willst bestimmt nicht erst in der Stadt anlegen?« Seit wir in das Boot geklettert waren, deutete Gallowglass immer wieder an, dass er Matthews Pläne für nicht besonders klug hielt.
    »Wir fahren nach Blackfriars«, wiederholte Matthew entschlossen. »Alles andere kann warten.«
    Gallowglass sah ihn zweifelnd an, aber er ruderte weiter, bis wir die westlichen Ausläufer des ummauerten Stadtkerns erreicht hatten. Dort legten wir an einer steilen Steintreppe an. Die untersten Stufen lagen unter dem Wasserspiegel, und so wie die Mauern aussahen, würde der Pegel demnächst weiter ansteigen, bis auch die übrigen Stufen unter Wasser waren. Gallowglass warf einem sehnigen Mann ein Tau zu, woraufhin dieser ihm überschwänglich dankte, dass er sein Eigentum heil zurückgebracht hatte.
    »Du scheinst nur in fremder Leute Booten zu reisen, Gallowglass. Vielleicht sollte Matthew dir eines zu Weihnachten schenken«, kommentierte ich trocken. Da wir mit unserer Rückkehr nach England auch zum alten Kalender zurückgekehrt waren, würden wir dieses Jahr zweimal Weihnachten feiern.
    »Und mich damit um eines meiner wenigen Vergnügen bringen?« Gallowglass’ Zähne leuchteten in seinem Bart auf. Matthews Neffe dankte dem Bootsmann und warf ihm eine Münze zu, deren Anblick und Gewicht das bis dahin beklommene Gesicht des armen Tropfes aufleuchten ließen.
    Wir gelangten vom Kai durch einen Mauerbogen in die Water Lane, eine schmale, gewundene und dicht mit Wohnhäusern und Geschäften bebaute Straße. Von Stockwerk zu Stockwerk reckten sich die Häuser weiter in Richtung Straßenmitte – wie Kommoden mit offenen Schubladen. Der Effekt wurde durch die Bettlaken, Teppiche und Wäschestücke verstärkt, die aus den Fenstern hingen. Jeder nutzte das ungewöhnlich gute Wetter, um seine Zimmer und Kleider zu lüften.
    Matthew hielt mich fest an der Hand, während Gallowglass rechts von mir ging. Aus allen Richtungen prasselten Geräusche und Eindrücke auf mich ein. Stoffe in sattem Rot, Grün, Braun und Grau schwangen an Hüften und Schultern, Röcke und Umhänge wurden von nahenden Wagenrädern weggezogen oder klemmten unter Paketen und Waffen, die eilig vorbeigetragen wurden. Das Schlagen der Hämmer, das Wiehern der Pferde, das ferne Muhen einer Kuh und das Scheppern von Metall, das über Stein rollte, wetteiferten um meine Aufmerksamkeit. Dutzende von Schildern mit Engeln, Schädeln, Werkzeugen, bunten Zeichen und mythologischen Gestalten schaukelten quietschend in der Brise, die vom Fluss heraufwehte. Über meinem Kopf baumelte ein Holzschild an seinem Metallstab. Es war mit einem weißen Hirsch bemalt, um dessen zierliches Geweih sich ein goldenes Band rankte.
    »Da sind wir«, erklärte Matthew. »Der gekrönte Hirsch des Hart and Crown.«
    Der Bau war, wie die meisten Gebäude in der Straße, ein Fachwerkhaus. Ein Durchgang mit Gewölbedecke spannte sich zwischen zwei Fensterreihen. Auf der einen Seite des Bogens war ein Schuhmacher bei der Arbeit, während die Frau auf der Seite gegenüber die vielen Kinder, die Kunden und das große Kontenbuch im Auge behielt. Sie nickte Matthew knapp zu.
    »Robert Hawleys Frau herrscht mit eiserner Hand über seine Lehrlinge und Kunden. In diesem Haus geschieht nichts, ohne dass Margaret es mitbekommt«, erklärte Matthew. Ich nahm mir fest vor, mich so schnell wie möglich mit dieser Frau anzufreunden.
    Der Durchgang führte in den Innenhof des Gebäudes – ein Luxus in einer so dicht bewohnten Stadt wie London. Der Hof selbst wartete mit einer weiteren seltenen Annehmlichkeit auf: einem Brunnen, der die Bewohner des Komplexes mit frischem Wasser versorgte. Jemand hatte die Südlage des Hofes ausgenutzt, die alten Pflastersteine herausgerissen und einen Garten angelegt, dessen saubere, leere Beete nun geduldig auf den Frühling warteten.

Weitere Kostenlose Bücher