Wo die Nacht beginnt
niedrigen, abgewetzten Bänken. Alle dienten als Ablage für ein buntes Durcheinander von Büchern, Papieren, Briefen, Hüten, Kleidern. Rechts sah ich Metall glänzen: von Schwertern, die aufgereiht und mit der Spitze nach unten bereitstanden. Daneben lag ein Stapel von Dolchen. Ich hörte etwas rascheln und dann weghuschen.
»Ratten.« Matthew erklärte das ganz sachlich, trotzdem zog ich unwillkürlich mein Nachthemd fester um die Waden. »Pierre und ich bekämpfen sie, so gut wir können, aber man wird sie nie ganz los. Das viele Papier übt einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus.« Er deutete nach oben, und erst da bemerkte ich den bizarren Wandschmuck.
Ich wagte mich näher und spähte zu den Girlanden hinauf, die zu meiner Überraschung gar keine Girlanden waren. Jedes der Papiergebilde erwies sich als eine Reihe von Dokumenten, die an der oberen linken Ecke gelocht waren und in einer Schlaufe aus Kordel hingen, welche mit einem Nagel an der Decke befestigt war.
»Eine der ersten Registraturen der Welt. Du behauptest, ich würde zu viele Geheimnisse hüten«, sagte er milde und zog eine der Girlanden herab. »Diese hier kannst du dazuzählen.«
»Aber das sind Tausende.« Bestimmt konnte nicht einmal ein fünfzehnhundert Jahre alter Vampir so viele Geheimnisse hüten.
»Stimmt«, erklärte Matthew. Er beobachtete, wie ich mit Blicken den Raum abtastete und das Archiv abzuschätzen versuchte. »Wir behalten all das in Erinnerung, was andere Kreaturen gern vergessen würden, und das ermöglicht es den Lazarusrittern, die sich in unserer Obhut befindlichen Wesen zu beschützen. Einige dieser Geheimnisse reichen bis zur Regentschaft des Großvaters der Königin zurück. Die meisten älteren Unterlagen wurden bereits zur weiteren Aufbewahrung nach Sept-Tours gebracht.«
»So viele dokumentierte Spuren«, murmelte ich. »Und alle führen letzten Endes zu dir und den de Clermonts.« Die Konturen des Raums lösten sich vor meinem angestrengten Blick auf, bis ich nur noch die Schleifen und Wirbel der Worte sah, die sich in lange, ineinander verwobene Fasern teilten. Sie bildeten ein Netz, das Themen, Autoren, Daten verband. Es gab etwas an diesen sich überschneidenden Linien, das ich unbedingt verstehen musste …
»Seit du eingeschlafen bist, brüte ich über diesen Papieren und suche nach Hinweisen auf Fian«, sagte Matthew, nachdem er mich in seine Schreibstube zurückgeführt hatte, »aus denen sich erschließt, warum sich seine Nachbarn plötzlich gegen ihn stellen. Es muss ein Muster geben, das erklärt, warum sich die Menschen so verhalten.«
»Wenn du es findest, werden sich meine Historikerkollegen brennend dafür interessieren. Aber selbst wenn du Fians Fall verstehst, verhinderst du damit nicht, dass mir das Gleiche zustoßen kann.« Das Muskelzucken in Matthews Kiefer verriet mir, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
»Ich bin nicht mehr der Mann, der vor diesem Leid die Augen verschließt – und ich will dieser Mann nie mehr sein.« Matthew zog seinen Stuhl heran und ließ sich hineinfallen. »Irgendwas muss ich doch unternehmen können.«
Ich nahm ihn in die Arme. Still saß er vor mir und schmiegte sich an mich. Gleich darauf erstarrte er, dann löste er sich langsam von mir, den Blick fest auf meinen Bauch gerichtet.
»Diana. Du bist …« Er verstummte mitten im Satz.
»Schwanger. Dachte ich mir’s doch«, stellte ich seelenruhig fest. »Seit der furchtbaren Sache mit Juliette kommt meine Periode unregelmäßig, darum war ich nicht sicher. Auf der Überfahrt von Calais nach Dover wurde mir schlecht, aber da hatten wir Seegang und außerdem diesen übelriechenden Fisch, bevor wir ablegten.«
Er starrte immer noch auf meinen Bauch. Ich plapperte nervös weiter.
»Meine Biologielehrerin in der Highschool hatte recht: Man kann tatsächlich beim ersten Mal ein Kind bekommen.« Ich hatte zurückgerechnet und war ziemlich sicher, dass ich an unserem Hochzeitswochenende schwanger geworden war.
Er saß immer noch stumm vor mir.
»Sag etwas, Matthew.«
»Das ist unmöglich.« Er sah mich fassungslos an.
»Bei uns ist alles möglich.« Ich legte eine zitternde Hand auf meinen Bauch.
Matthew verschränkte seine Finger mit meinen und blickte mich endlich an. Was ich in seinen Augen sah, überraschte mich: Ehrfurcht, Stolz und ein Anflug von Panik. Dann lächelte er. Und sein Gesicht strahlte reine Freude aus.
»Und wenn ich keine gute Mutter werde?«, fragte ich unsicher. »Du warst
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