Wo die Nacht beginnt
Buch stand, in dem man, so versprach der Titel, nicht nur eine Anleitung fürs Fischen finden konnte, sondern auch Hilfe beim Bau von Allerley aparaturen und fallen zum Fange von Hermelinnen, Bussarden, Raten, Meusen und anderem Ungezifer sowie wildem Gethiere aller Art. Ich hatte mich schon gefragt, wie ich die unerwünschten Gäste in Matthews Speicher loswerden könnte. Die detaillierten Anweisungen in dieser Schrift überstiegen zwar meine handwerklichen Fähigkeiten bei Weitem, aber vielleicht würde ich jemanden finden, der mir so etwas bauen konnte. Falls die Mäusegirlande in Chandlers Laden ein Anhaltspunkt war, funktionierten die Fallen jedenfalls.
»Verzeiht, Mistress«, murmelte Chandler und griff an mir vorbei. Fasziniert beobachtete ich, wie er die Mäuse mit an die Theke nahm und ihnen mit chirurgischer Präzision die Ohren abschnitt.
»Wozu werden die gebraucht?«, fragte ich George.
»Gestoßene Mäuseohren sind höchst hilfreich gegen Warzen«, erklärte er mir ernst, während Chandler mit dem Stößel hantierte.
Erleichtert, dass ich nicht unter Warzen litt, zog ich mich zu der Eule zurück, die über die Schreibwarenabteilung wachte. Ich entdeckte einen Topf mit satter, tiefroter Tinte.
Euer Wearh- Freund wird es nicht gutheißen, wenn er dieses Fässlein nach Hause tragen muss. Die Tinte ist aus Falkenblut gefertigt und wird für Liebeszauber gebraucht.
Chandler besaß also die Gabe der stummen Sprache. Ich stellte die Tinte zurück und griff nach einem eselsohrigen Pamphlet. Die Bilder auf dem Umschlag zeigten einen Wolf, der ein kleines Kind zerriss, und einen Mann, der erst auf grässliche Weise gefoltert und dann hingerichtet wurde. Als ich die erste Seite umblätterte, las ich erstaunt von einem Mann namens Stubbe-Peter, der die Gestalt eines Wolfes annehmen konnte und das Blut von Männern, Frauen und Kindern trank. Nicht nur Hexen standen im Fokus der Öffentlichkeit, sondern auch Vampire.
Ich überflog die Seite. Erleichtert stellte ich fest, dass Stubbe weit weg in Deutschland gelebt hatte. Doch die Angst flammte sofort wieder auf, als ich feststellte, dass der Onkel eines seiner Opfer die Brauerei zwischen unserem Haus und Baynard’s Castle führte. Ich war fassungslos, wie detailliert die grausamen Morde geschildert wurden, aber auch wie weit die Menschen gingen, um die nichtmenschlichen Kreaturen in ihrer Mitte zu entlarven. Hier wurde der Stubbe-Peter als Hexer dargestellt und sein merkwürdiges Verhalten einem Pakt mit dem Teufel zugeschrieben, der es ihm ermöglichte, seine Gestalt zu verändern und seinen widernatürlichen Blutdurst zu stillen. Dabei war es viel wahrscheinlicher, dass der Mann ein Vampir war. Ich schob das Pamphlet unter mein anderes Buch und ging zur Theke.
»Mistress Roydon benötigt noch ein paar Kleinigkeiten«, erklärte George dem Apotheker, als ich zu den beiden trat.
Chandlers Geist leerte sich sofort, als mein Name fiel.
»Ja«, bestätigte ich langsam. »Rote Tinte, wenn Ihr welche habt. Und etwas duftende Seife.«
»Sehr wohl.« Der Hexer kramte zwischen ein paar kleinen Zinngefäßen. Als er das richtige gefunden hatte, stellte er es auf die Theke. »Benötigt Ihr auch zur Tinte passendes Siegelwachs?«
»Ich nehme, was Ihr habt, Master Chandler.«
»Wie ich sehe, habt Ihr hier eines von Master Hesters Büchern«, sagte George und hob ein auf der Theke liegendes Werk an. »Ich habe Mistress Roydon erklärt, dass Eure Tinte ebenso gut ist wie die von Hester und dabei nur die Hälfte kostet.«
Der Apotheker bedankte sich mit einem bemühten Lächeln für Georges Kompliment und gab mehrere nelkenrote Wachsstangen und zwei Kugeln süßlich duftender Seife zu meiner Tinte. Ich legte das Handbuch über Ungezieferbekämpfung und das Pamphlet über den deutschen Vampir auf die Theke. Chandler sah mich an. In seinen Augen stand Argwohn.
»Ja«, bestätigte er, »da es sich mit einem medizinischen Thema befasst, hat der Drucker von gegenüber mir ein paar Kopien dagelassen.«
»Das wird Mistress Roydon ebenfalls interessieren«, sagte George und ließ es auf meinen Stapel fallen. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie die Menschen so taub und blind für das sein konnten, was um sie herum vorging.
»Aber ich bin nicht sicher, ob diese Abhandlung die geeignete Lektüre für eine Dame ist …« Chandlers Stimme versagte, und er blickte verwirrt auf meinen Ehering.
Georges schnelle Antwort übertönte meine stumme Erwiderung. »Ach, ihren
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