Wo die Nacht beginnt
mit dem Titel Die Lüge . Der Autor war zwar anonym, doch es wurde Walter Raleigh zugeschrieben. » So sprich zum Hof, er leuchte / Und glimme wie verfaultes Holz?«
»Matt hat Euch also seine Verse vorgetragen.« George seufzte noch einmal. »Er hat die Gabe, mit wenigen Worten ein ganzes Spektrum von Gefühlen und Bedeutungen auszudrücken. Um dieses Talent beneide ich ihn.«
Das Gedicht war zwar relativ bekannt, aber dass Matthew etwas damit zu tun hatte, nicht. Allerdings würde an den vor uns liegenden Abenden noch genügend Zeit bleiben, mich mit den literarischen Versuchen meines Gemahls zu befassen. Ich ließ das Thema fallen und hörte weiter George zu, der sich darüber ausließ, dass die Schriftsteller inzwischen zu viel veröffentlichen mussten, um ihr Überleben zu sichern, und es kaum verantwortungsvolle Verleger gab.
»Dort ist Chandlers Geschäft«, erklärte er unvermittelt und deutete auf eine Kreuzung, über der sich eine Plattform mit einem windschiefen Kreuz erhob. Eine Bande von Buben war damit beschäftigt, einen der groben Pflastersteine aus der Basis zu lösen. Man musste keine Hexe sein, um vorhersehen zu können, dass dieser Stein bald in einem Ladenfenster landen würde.
Je näher wir dem Geschäft des Apothekers kamen, desto kälter schien es zu werden. Genau wie bei St. Paul’s spürte ich auch hier einen unterschwelligen Kraftfluss, aber über dem gesamten Viertel lagen drückende Armut und Verzweiflung. Ein uralter Turm erhob sich halb verfallen an der Nordseite der Straße, und die Häuser links und rechts davon sahen aus, als würde der nächste Windstoß sie davontragen. Zwei Jugendliche kamen näher geschlurft und beäugten uns interessiert, bis Pierre sie mit einem leisen Zischen verscheuchte.
John Chandlers Laden passte hervorragend in die bedrückende Atmosphäre des ganzen Straßenzugs. Er war dunkel, roch streng und machte mich nervös. Eine ausgestopfte Eule hing an der Decke, und unter dem mit scharfen Zähnen besetzten Kiefer einer unglückseligen Kreatur war eine Schautafel angebracht, auf der ein menschlicher Körper mit gebrochenen, von Waffen durchbohrten oder abgetrennten Gliedmaßen zu sehen war. Im linken Auge des armen Tropfes steckte schief und höhnisch eine Schusterahle.
Hinter einem Vorhang erschien ein buckliger Mann und wischte sich die Hände an den Ärmeln seines rostig schwarzen Bombasinmantels ab. Der Mantel erinnerte mich an die Talare, die in Oxford und Cambridge von den Studenten getragen wurden, zumal er ähnlich verknittert war. Klare, haselnussbraune Augen blickten hellwach in meine, und augenblicklich begann meine Haut zu kribbeln. Chandler war ein Hexenmeister. Nachdem ich fast ganz London durchquert hatte, war ich endlich auf jemanden aus meinem Volk gestoßen.
»Die Straßen um Euer Geschäft werden von Woche zu Woche gefährlicher, Master Chandler.« George spähte durch den Türspalt auf die Bande, die auf der Straße herumlungerte.
»Diese Spitzbuben kennen keinen Anstand mehr«, pflichtete Chandler ihm bei. »Was kann ich für Euch tun, Master Chapman? Braucht Ihr noch etwas von meinem Tonikum? Sind die Kopfschmerzen zurückgekehrt?«
George schilderte hingebungsvoll seine diversen Zipperlein und Schmerzen. Chandler murmelte von Zeit zu Zeit etwas Mitfühlendes und zog zuletzt ein handgeschriebenes Rezeptbuch heran. Die Männer beugten sich darüber, und ich bekam dadurch Gelegenheit, meine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen.
Offenbar waren im elisabethanischen Zeitalter die Apotheken so etwas wie Gemischtwarenläden, der kleine Verkaufsraum war bis unter die Decke mit Waren vollgestopft. Es gab Stapel mit drastisch illustrierten Handzetteln, ähnlich dem Plakat mit dem Verletzten an der Wand, außerdem Krüge mit kandierten Früchten. Auf einem Tisch lagen gebrauchte Bücher sowie ein paar neue Titel. Aus der Düsternis des Raumes leuchtete eine an einem hellen Fleck stehende Reihe von irdenen Töpfen, die mit den Namen verschiedener Gewürze und Kräuter beschriftet waren. Die ausgestellten tierischen Exponate umfassten nicht nur die ausgestopfte Eule und den Kiefer, sondern auch einige vertrocknete, am Schwanz aufgehängte Nager. Ich erblickte Tintenfässer, Federkiele und eine Garnspule.
Der Laden war lose nach Themengruppen sortiert. Die Tinte fand sich bei den Federkielen und gebrauchten Büchern unter der weisen alten Eule. Die Mäuse hingen über einem Tontopf mit der Aufschrift Rattenbann , der wiederum neben einem
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