Wo die Nacht beginnt
Wasserhexe im Hart and Crown. Ich lag gerade auf dem Bett, noch erschöpft vom Vortag, an dem ich quer durch die Stadt marschiert war. Die große, geschmeidige Wasserhexe schien eher ins Haus zu fließen, als es zu betreten. Allerdings traf sie noch in der Eingangshalle auf ein massives Hindernis in Form eines Vampirwalls.
»Es ist schon gut, Matthew«, sagte ich von der Tür zu unserer Schlafkammer aus und winkte die Besucherin herein.
Als wir allein waren, musterte mich die Wasserhexe von Kopf bis Fuß. Ihr Blick kitzelte wie Salzwasser auf meiner Haut und war kühl wie ein Sprung ins Meer an einem heißen Sommertag.
»Goody Alsop hatte recht«, erklärte sie mit tiefer, musikalischer Stimme. »In Eurem Blut ist zu viel Wasser. Wir dürfen uns nicht zu mehreren mit Euch treffen, das könnte eine Springflut auslösen. Ihr müsst uns nacheinander empfangen. Das wird den ganzen Tag dauern, fürchte ich.«
Also ging ich nicht zu den Wasserhexen, sondern die Wasserhexen kamen zu mir. Sie tröpfelten ins Haus und trieben Matthew und Françoise damit fast zum Wahnsinn. Aber ich konnte meine seelische Nähe zu ihnen nicht leugnen.
»Das Wasser hat nicht gelogen«, murmelte eine von ihnen, nachdem ihre Finger über meine Stirn und meine Schultern geflossen waren. Sie drehte meine Hände nach oben, um die Handflächen zu studieren. Sie war kaum älter als ich und von atemberaubender Farbe: weiße Haut, schwarzes Haar und Augen von der Farbe der Karibik.
»Welches Wasser?«, fragte ich, während sie die Verästelungen meiner Lebenslinie nachfuhr.
»Jede Wasserhexe in London hat von Mittsommer bis Mabon Regenwasser gesammelt und es in die Wahrsageschale der Rede gegossen. Die Schale offenbarte, dass in den Adern der lange erwarteten Weberin Wasser fließen würde.« Die Wasserhexe atmete erleichtert auf und ließ meine Hände los. »Wir brauchen dringend neue Zauberformeln, nachdem wir geholfen haben, die spanische Flotte zurückzuschlagen. Den Vorrat der Windhexen hat Goody Alsop auffrischen können, aber die schottische Weberin ist eine Erdhexe, darum konnte sie uns nicht helfen – selbst wenn sie gewollt hätte. Ihr dagegen seid eine wahre Tochter des Mondes und werdet uns gewiss behilflich sein.«
Am Freitagmorgen erschien ein Bote, der mir eine Adresse in der Bread Street nannte und mich anwies, dort um elf Uhr zu erscheinen, um mich den letzten verbleibenden Mitgliedern der Rede vorzustellen: den beiden Erdhexen. Die meisten Hexen trugen ein bisschen Erdmagie in sich. Sie bildete das Fundament der Hexenkunst, darum war in einem modernen Konvent eine Erdhexe nichts Besonderes. Ich war neugierig, ob die elisabethanischen Erdhexen da anders waren.
Matthew und Annie begleiteten mich, da Pierre mit einer Besorgung für Matthew unterwegs war und Françoise einkaufen gegangen war. Wir wollten gerade St. Paul’s hinter uns lassen, als Matthew einen Bengel mit dreckigem Gesicht und elend dünnen Beinen am Genick packte. Blitzschnell lag Matthews Klinge am Ohr des Kindes.
»Wenn du auch nur einen Finger bewegst, Bürschchen, dann ist dein Ohr ab«, sagte er gefährlich leise.
Ich sah nach unten und stellte überrascht fest, dass die Hand des Kindes auf dem Beutel an meiner Taille lag.
Matthew strahlte immer eine Spur von unterschwelliger Gewalt aus, selbst im 21. Jahrhundert, aber in Elisabeths London machte sich dieser Zug viel stärker bemerkbar. Trotzdem war es nicht nötig, einen kleinen Jungen so zu drangsalieren.
»Matthew«, warnte ich ihn, als ich die nackte Angst im Gesicht des Kindes sah. »Hör auf.«
»Ein anderer Mann hätte dir längst das Ohr gekappt oder dich vor den Richter geschleift.« Matthew kniff die Augen zusammen, und das Kind erbleichte noch mehr.
»Es reicht«, erklärte ich knapp. Ich legte die Hand auf die Schulter des Kindes, das daraufhin noch blasser wurde. Blitzartig sah mein Hexenauge, wie eine schwere Männerhand das Kind schlug und gegen eine Wand schleuderte. Unter meinen Fingern erstreckte sich, verborgen unter dem dünnen, groben Hemdstoff, dem einzigen Schutz gegen die Kälte, ein hässlicher Bluterguss. »Wie heißt du?«
»Jack, Mylady«, hauchte der Junge. Matthews Messer drückte immer noch gegen sein Ohr, und allmählich erregten wir Aufmerksamkeit.
»Nimm den Dolch weg, Matthew. Das Kind stellt für uns keine Gefahr dar.«
Mit einem leisen Zischen zog Matthew die Klinge zurück.
»Wo sind deine Eltern?«
Jack zuckte mit den Achseln. »Ich hab keine,
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