Der Ruf des Abendvogels Roman
VORWORT
R iordan Magee trat in das feuchte Dunkel des Chelms Wood in der Nähe von Goold’s Cross, Tipperary. Obwohl er die Geschichten über böse Geister in diesem Wald zuvor scheinbar unbeeindruckt als Aberglaube abgetan hatte, überlief ihn nun doch ein kalter Schauder, als er zwischen den hohen, alten, von Flechten überwucherten Bäumen entlangging, und unwillkürlich tastete er nach dem Griff seiner Pistole.
Dieser Wald, so viel hatte die Frau des Gastwirts ihm erzählt, gehörte zum Anwesen von Donaldbain Keefe, ein ewig schlecht gelaunter, stummer Einsiedler, der Eindringlinge oder Wilddiebe gern mit einer Salve aus seiner uralten Donnerbüchse erschreckte.
Dabei dürfte es seit dem Verschwinden des jungen Malachy Finn wohl kaum irgendwelche Eindringlinge gegeben haben. Der kleine Junge war zwei Jahre zuvor, im Bilderbuchsommer von 1920, verschwunden, als er im Chelms Wood gespielt hatte. Seitdem hatte nicht einmal die Aussicht auf einen Fasanenbraten die Anwohner dazu verleiten können, dort zu wildern.
»Die Suchtrupps haben damals merkwürdige Markierungen auf dem Boden gefunden«, hatte die Wirtsfrau in verschwörerischem Ton geflüstert, »und etwas in den Bäumen, was sie für zerstückelte Tiere hielten. Aber nicht eine Spur vom jungen Malachy. Hexenzauber, kein Zweifel!«
»Abergläubiges Gewäsch!«, hatte Riordan erwidert. »Die Zigeuner benutzen solche Tricks, um die Leute abzuschrecken und die Wälder und das Wild für sich zu behalten!«
»Aber was ist dann mit Malachy passiert?«
Darauf hatte Riordan keine Antwort gehabt.
»Denk an meine Worte, Junge«, hatte die Frau gesagt. »Bei Vollmond hört man die wilden Hunde heulen – wenn du in diesen Wald gehst, bist du auf dich allein gestellt!«
Obwohl es dunkel war und man nicht viel sah, wusste Riordan, dass es leichtsinnig gewesen wäre, eine Laterne anzuzünden. So tastete er sich seinen Weg über umgestürzte Stämme und um dornige Zweige herum, die an seine Hosenbeine schlugen und ihm die Beine zerkratzten. Er durchquerte einen kleinen Bachlauf, der im Mondlicht wie flüssiges Silber glänzte, und stieg dann einen rutschigen, moosbewachsenen Hang hinauf.
Oben angekommen, hörte er Musik wie von einem ausschweifenden Fest und lautes Gelächter, Geräusche, die zusammen mit dem Rauch eines Holzfeuers und dem verlockenden Duft gebratenen Fleisches zu ihm herübergetragen wurden. Doch wegen der dunklen Silhouetten der ihn umgebenden, dicht belaubten Bäume gelang es ihm nicht, irgendetwas zu erkennen.
Plötzlich erklang der Ruf einer Nachtigall genau über ihm und ließ ihn so heftig erschrecken, dass er blitzschnell seine Pistole zog. »Gütiger Gott!«, murmelte er, als der Vogel davonflatterte und er sein Herz wild pochen spürte. Mühsam kämpfte er den Gedanken an Malachy Finn nieder und erschauderte im Nachhinein bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn er wirklich seine Pistole abgefeuert und die Zigeuner dadurch auf sich aufmerksam gemacht hätte.
»Ich muss komplett verrückt sein«, murmelte er im Weitergehen, denn ihm war klar, dass er sterben könnte, wenn er entdeckt würde – die Zigeuner schützten bekanntlich ihre Frauen mit ihrem Leben.
Seit Victoria Millburn ihm ein Bild ihrer Nichte Tara geschickt hatte, die ihrer Ansicht nach von dem fahrenden Volk geraubt worden war, quälte Riordan die Vorstellung, das Mädchen werde vielleicht misshandelt und vergewaltigt. Im Lauf der Zeit hatteihn eine regelrechte Besessenheit überkommen, Tara aus einem, wie er es sah, erniedrigenden Dasein zu befreien. Seine Geschäfte hatten darunter ebenso gelitten wie sein Privatleben. Selbst seine Freunde zweifelten an seinem Verstand, seit er begonnen hatte, jedem Hinweis über Taras Aufenthaltsort nachzugehen und manchmal tagelang durch die Straßen zu wandern, egal ob in Matsch oder Schnee, und seit er außerdem jeden Schlupfwinkel untersuchte, an dem sich die Zigeuner aufhalten mochten.
Zum Glück war es trotz der drohenden Regenwolken trocken geblieben und der Vollmond schien. Während Riordan weiter auf den Lärm des Zigeunerfestes zuhielt, brachen einzelne Lichtstreifen durch die vorüberziehenden Wolken und die Baumkronen und erhellten kleine Flecke auf dem Waldboden.
Riordans Herz drohte zu zerspringen, als ein Hase direkt neben ihm aufsprang und im Schutz des Gebüschs verschwand. Er war am Ende seiner Nerven, als er schließlich hinter dunklen Bäumen den Schein eines Lagerfeuers entdeckte. Schrilles Frauengelächter,
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