Wo die Nacht beginnt
angenehmeren Ort erledigen?«, fragte Knox, den Blick misstrauisch auf den (aus kommunistischen Zeiten stammenden) Metalltisch gerichtet. »Ist das Gulasch?« Er deutete auf einen klebrigen Fleck auf der Tischplatte.
»Die Wände haben Ohren, und die Böden haben Augen.« Skovajsa wischte mit dem Saum seines braunen Pullovers über den Fleck. »Hier ist es sicherer. Setzen Sie sich. Ich bringe Ihnen den Brief.«
»Und das Buch«, ergänzte Knox knapp. Überrascht über den scharfen Tonfall drehte sich Skovajsa um.
»Ja, natürlich. Und das Buch.«
»Das ist nicht Von der Kunst der Kabala«, sagte Knox, als Skovajsa zurückkehrte. Er wurde mit jeder Sekunde ungehaltener. Johannes Reuchlins Buch war schlank und elegant. Dieses Monstrum hier war bestimmt an die achthundert Seiten dick. Als es auf dem Tisch landete, erbebten die Tischplatte und die Metallbeine unter dem Aufprall.
»Nicht direkt«, verteidigte sich Skovajsa. »Es ist Galatinos De Arcanis Catholicae Veritatis . Aber der Reuchlin ist darin enthalten.« Sein eher freizügiger Umgang mit bibliographischen Details war Knox ein steter Dorn im Auge.
»Die Titelseite ist in Hebräisch, Latein und Französisch beschrieben.« Skovajsa klappte den harten Umschlag auf. Nachdem nichts den Rücken des schweren Bandes stützte, überraschte es Knox nicht, dass er ein unheilverheißendes Knacksen hörte. Er sah erschrocken zu Skovajsa auf. »Keine Sorge«, beruhigte ihn der Buchrestaurator. »Es ist nicht katalogisiert. Es ist mir nur aufgefallen, weil es neben unserer anderen Ausgabe einsortiert war, die neu gebunden werden sollte. Wahrscheinlich ist es irrtümlich hier gelandet, als unsere Bestände 1989 zurückgegeben wurden.«
Knox studierte pflichtbewusst die Titelseite und die Beschriftungen.
Genesis 49:27
Beniamin lupus rapax mane comedet praedam et vespere dividet spolia.
Benjamin est un loup qui dechire; au matin il devore la proie, et sur le soir il partage le butin.
»Die Handschrift ist alt, nicht wahr? Und der Besitzer war eindeutig gebildet«, stellte Skovajsa fest.
» Benjamin soll wüten wie ein Wolf: morgens soll er die Beute verschlingen und abends die Reste verteilen«, sinnierte Knox. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese Zeilen mit De Arcanis zu tun haben sollten. Galatinos Werk war im Krieg der katholischen Kirche gegen den jüdischen Mystizismus – jenem Krieg, der im 16. Jahrhundert zu Bücherverbrennungen, Inquisitionsprozessen und Hexenjagden geführt hatte – kaum von Bedeutung gewesen. Galatinos Position zu diesen Themen ergab sich schon aus dem Titel: Über die Geheimnisse der allgemeingültigen Wahrheit. Durch einen raffinierten intellektuellen Trick gelangte Galatino zu dem Schluss, dass die Juden die christlichen Lehren vorausgeahnt hätten und dass die katholischen Bemühungen, die Juden zum wahren Glauben zu bekehren, durch das Studium der Kabbala gestützt werden könnten.
»Vielleicht hieß der Besitzer Benjamin?« Skovajsa drehte sich um und reichte Knox eine Akte. Knox stellte erfreut fest, dass man nicht in roten Druckbuchstaben streng geheim darauf gestempelt hatte. »Und hier ist der Brief. Ich verstehe kein Hebräisch, aber der Name Edwardus Kellaeus und das Wort Alchemie – Alchymia – sind in Latein geschrieben.«
Knox drehte das Blatt um. Offenbar träumte er. Er musste träumen. Der Brief war auf den zweiten Tag des Elul 5369 datiert – den 1. September 1609 im christlichen Kalender. Und er war unterschrieben von Yehuda ben Bezalel, der allgemein als Rabbi Judah Löw bekannt war.
»Sie können doch Hebräisch, oder?«, fragte Skovajsa.
»Ja.« Diesmal musste Knox flüstern. »Ja«, wiederholte er kräftiger. Er starrte auf den Brief.
»Und?«, fragte Skovajsa, nachdem es fast eine Minute still geblieben war. »Was steht darin?«
»So wie es aussieht, traf sich damals ein Jude aus Prag mit Edward Kelley und schrieb einem Freund davon.« Das war die Wahrheit – wenn auch nicht die ganze.
Langes Leben und Frieden, Benjamin, Sohn von Gabriel, teurer Freund , schrieb Rabbi Löw.
Mit großer Freude habe ich Euren Brief aus meiner Geburtsstadt empfangen. Posen ist für Euch ein besserer Ort als Ungarn, wo Euch nichts als Elend erwartet. Ich bin zwar ein alter Mann, doch Euer Brief erweckte jene merkwürdigen Begebenheiten zu neuem Leben, die sich im Frühling des Jahres 5351 zutrugen, als Edwardus Kellaeus, Student der Alchemie und Favorit des Kaisers, mich besuchen kam. Völlig außer sich behauptete
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