Wo die Nacht beginnt
sollte. Matthew Clairmont wusste vielleicht mehr über diese Sache, als irgendeiner von ihnen vermutete.
»Ich nehme an, Sie würden jetzt gern ins rudolfinische Prag zeitwandeln, um dort nach Edward Kelley zu suchen«, knurrte Gerbert und bemühte sich gleichzeitig, ein entnervtes Seufzen zu unterdrücken. Hexen waren so impulsiv.
»Ganz im Gegenteil. Ich reise nach Sept-Tours.«
Gerbert schnaubte. Den Familiensitz der de Clermonts erstürmen zu wollen war ein noch lächerlicherer Gedanke, als in die Vergangenheit zurückzukehren.
»So verlockend das auch sein mag, es wäre nicht klug. Baldwin stellt sich nur blind, weil er mit Matthew über Kreuz liegt.« Soweit Gerbert sich erinnern konnte, hatte Philippe bloß einen einzigen strategischen Fehler begangen, und zwar, als er Matthew mit der Führung der Lazarusritter betraut hatte und nicht den älteren Sohn, der immer geglaubt hatte, ein Anrecht auf diesen Titel zu besitzen. »Außerdem sieht sich Benjamin nicht mehr als einen de Clermont – und die de Clermonts betrachten ihn ganz bestimmt nicht als einen der ihren. Auf Sept-Tours werden wir ihn keinesfalls finden.«
»Wer weiß, vielleicht besitzt Matthew de Clermont seit Jahrhunderten eine der fehlenden Seiten. Das Buch nützt uns nichts, solange es nicht komplett ist. Außerdem wird es höchste Zeit, dass ein Vampir für seine Sünden bezahlt – und für die seiner Mutter und seines Vaters dazu.« Gemeinsam waren sie für den Tod Tausender Hexen verantwortlich. Sollten sich die Vampire doch selbst den Kopf zerbrechen, wie sie Baldwin besänftigen konnten. Knox hatte die Gerechtigkeit auf seiner Seite.
»Vergessen Sie nicht die Sünden seiner Geliebten«, ergänzte Gerbert gehässig. »Ich vermisse meine Juliette. Diana Bishop schuldet mir ein Leben für das, das sie mir genommen hat.«
»Also kann ich auf Sie zählen?« Knox war das eigentlich egal. Noch vor dem Wochenende würde er einen Stoßtrupp von mehreren Hexen gegen die Feste der de Clermonts führen, und zwar mit oder ohne Gerberts Hilfe.
»Können Sie«, erklärte sich Gerbert widerstrebend bereit. »Sie versammeln sich schon auf Sept-Tours, müssen Sie wissen. Die Hexen. Die Vampire. Es sind sogar ein paar Dämonen darunter. Sie bezeichnen sich selbst als Konventikel. Marcus hat eine Nachricht an die Vampire in der Kongregation geschickt, in der er fordert, den Pakt aufzulösen.«
»Aber das würde …«
»Das Ende unserer Welt bedeuten«, beendete Gerbert den Satz.
Fünfter Teil
London:
Blackfriars
34
I hr habt mich tief enttäuscht!«
Ein roter Damastschuh segelte durch die Luft. Matthew nahm im letzten Moment den Kopf zur Seite. Der Schuh flog an seinem Ohr vorbei, schlug eine juwelenbesetzte Armillarsphäre vom Tisch und landete auf dem Boden. Die miteinander verbundenen Ringe des astronomischen Instruments rotierten in ohnmächtiger Frustration auf ihren vorgegebenen Bahnen.
»Ich wollte Kelley! Stattdessen bekomme ich Besuch vom kaiserlichen Botschafter, der mir von Euren zahlreichen Verfehlungen berichtet. Als er mich sehen wollte, war es noch nicht einmal acht Uhr und die Sonne kaum aufgegangen.« Elisabeth Tudor litt unter Zahnschmerzen, was ihre Laune nicht besserte. Sie sog eine Wange nach innen, um den infizierten Backenzahn abzudecken, und verzog das Gesicht. »Und wo habt Ihr überhaupt gesteckt? Lässt Euch kalt, wie sehr ich leide?«
Eine blauäugige Schönheit trat vor und reichte Ihrer Majestät ein mit Nelkenöl getränktes Tuch. Der Gewürzgeruch verschlug mir fast den Atem. Elisabeth schob das Tuch mit spitzen Fingern zwischen Wange und Zahnfleisch, und die Hofdame entfernte sich in ihrem um die Knöchel wischenden grünen Kleid. Der Farbton wirkte unangemessen optimistisch, so als wollte sie an diesem wolkenverhangenen Maientag den Sommer herbeizwingen. Aus dem Turmraum im vierten Stock des Palastes von Greenwich hatte man freien Blick auf den grauen Fluss, das morastige Land rundum und den englischen Gewitterhimmel. Trotz der vielen Fenster konnte das silbrige Morgenlicht nicht die trübe Stimmung in dem so maskulinen und im Stil der frühen Tudorjahre eingerichteten Raum aufhellen. Die in die Decke eingearbeiteten Initialen – ein ineinander verschlungenes H und A für Heinrich VIII. und Anne Boleyn – ließen darauf schließen, dass der Raum etwa zur Zeit von Elisabeths Geburt eingerichtet und seither kaum genutzt worden war.
»Vielleicht sollten wir Master Roydon anhören, bevor Ihr Euer Tintenfass nach
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