Wo die Nacht beginnt
Ernst. Gallowglass, Ysabeaus rastloser Enkel, harrte zur Überraschung aller schon seit vollen sechs Wochen hier aus und machte immer noch keine Anstalten aufzubrechen. Sophie Norman und Nathaniel Wilson hatten unter Ysabeaus Dach ihr Kind Margaret zur Welt gebracht, und seither stand das Baby in der Rangfolge direkt unter der Matriarchin der de Clermonts. Seit ihr Enkel auf Sept-Tours lebte, erschien Nathaniels Mutter Agatha regelmäßig und stets, ohne sich vorher anzukündigen, genau wie Matthews bester Freund Hamish. Selbst Baldwin schaute gelegentlich vorbei.
Noch nie in Ysabeaus langem Leben hatte man von ihr erwartet, als Schlossherrin einen derartigen Haushalt zu führen.
»Wo ist Sarah?«, fragte Marcus und versuchte sie durch das Rumoren im Gebäude zu erlauschen. »Ich kann sie nicht hören.«
»Im Wehrturm.« Ysabeau umfuhr den Zeitungsartikel mit einem scharfen Fingernagel und hob die säuberlich herausgetrennte Spalte aus dem Papier. »Sophie und Margaret haben ihr eine Weile Gesellschaft geleistet. Sophie meint, Sarah würde Ausschau halten.«
»Wonach? Was ist jetzt wieder los?« Marcus griff nach der Zeitung. Er hatte am Morgen alle Blätter studiert und die subtilen Schwankungen in Notierungen und Einfluss nachvollzogen, die Nathaniel auf seine einzigartige Weise so herauszufiltern und zu analysieren verstand, dass sie dadurch besser auf den nächsten Zug der Kongregation vorbereitet waren. Eine Welt ohne Phoebe war für ihn unvorstellbar, aber Nathaniel war inzwischen fast genauso unverzichtbar. »Dieses verfluchte Teleskop wird noch zum Problem. Ich weiß es einfach. Die Kongregation braucht nur eine Hexe, die zeitwandeln kann, und schon wissen sie durch diese Geschichte alles, was sie brauchen, um in die Vergangenheit zu reisen und meinen Vater zu finden.«
»Dein Vater wird nicht mehr lange dort sein, wenn er nicht schon wieder verschwunden ist.«
»Wirklich, Grand-mère «, erklärte Marcus ärgerlich, den Blick immer noch auf den Text um das Loch gerichtet, das Ysabeau in die Zeitung gerissen hatte. »Woher willst du das wissen?«
»Erst kamen die Miniaturen, dann die Laborakten und jetzt das Teleskop. Ich kenne meine Schwiegertochter. Dieses Teleskop ist genau die Art von Abschiedsgeste, die Diana hinterlassen würde, wenn sie nichts mehr zu verlieren hat.« Ysabeau schob sich an ihrem Enkel vorbei. »Diana und Matthew sind auf dem Heimweg.«
Marcus sah sie mit undurchdringlicher Miene an.
»Ich dachte, du würdest dich über die Rückkehr deines Vaters freuen«, sagte Ysabeau leise von der Tür aus.
»Es waren ein paar schwierige Monate«, sagte Marcus düster. »Die Kongregation hat klargestellt, dass sie das Buch und Nathaniels Tochter wollen. Wenn Diana erst wieder hier ist …«
»Werden sie vor nichts zurückschrecken.« Ysabeau holte tief Luft. »Wenigstens brauchen wir uns dann nicht mehr zu sorgen, dass Diana und Matthew in der Vergangenheit verunglücken könnten. Wir werden hier auf Sept-Tours Seite an Seite kämpfen.« Und Seite an Seite sterben.
»Seit letztem November hat sich so vieles verändert.« Marcus starrte auf die glänzende Tischfläche, als wäre er ein Hexer und könnte daraus die Zukunft lesen.
»In ihrem Leben vermutlich auch. Aber dass dein Vater dich liebt, bleibt unveränderlich. Sarah braucht Diana jetzt. Und du brauchst Matthew.«
Ysabeau überließ Marcus seinen Gedanken, nahm den Zeitungsausschnitt und machte sich damit auf den Weg zum runden Turm. Einst war das Philippes liebster Kerker gewesen. Jetzt wurden dort die Familienunterlagen gelagert. Die Tür zu dem Zimmer im dritten Stock war zwar angelehnt, aber Ysabeau klopfte trotzdem kurz an.
»Sie brauchen nicht zu klopfen. Das ist Ihr Haus.« Das Rasseln in Sarahs Stimme verriet, wie viele Zigaretten sie bereits geraucht und wie viel Whisky sie dazu getrunken hatte.
»Wenn Sie das so handhaben, bin ich froh, dass ich nicht bei Ihnen zu Gast bin«, erwiderte Ysabeau scharf.
»Bei mir?« Sarah lachte leise. »Ich hätte Sie auf keinen Fall ins Haus gelassen.«
»Vampire brauchen normalerweise keine Einladung.« Ysabeau und Sarah hatten die Kunst der ätzenden Wortgefechte perfektioniert. Marcus und Em hatten die beiden erfolglos zu überreden versucht, sich an die Regeln einer höflichen Unterhaltung zu halten, aber die Klanmatriarchinnen wussten genau, dass ihre scharfen Wortwechsel dazu beitrugen, das fragile Gleichgewicht der Kräfte zu wahren. »Sie sollten nicht hier oben
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